Bellingham glänzt im Drecksloch Das große 1,5-Milliarden-Euro-Rätsel dieser EM

Über das EM-Duell zwischen England und Serbien wurde vorab viel berichtet – und wenig sportlich. Zu groß war die Angst, dass es zwischen beiden Fanlagern richtig knallen würde. Und nach dem Spiel? Muss sportlich ebenfalls nicht viel berichtet werden.

Als die wichtigste U-Bahn-Linie der Stadt zweieinhalb Stunden vor Anpfiff eine längere Pause einlegen musste, wegen eines offenbar defekten oder aber demolierten Zugs (es gibt unterschiedliche Berichte) wurde es typisch britisch. Es begann heftig zu schütten. Viele Fans der Three Lions ziehen sich die Trikots aus, greifen zu Bier oder Whiskey-Cola und gehen grölend-feiernd zu Fuß zum Stadion. Das ist von der Innenstadt in Gelsenkirchen ein einstündiger Spaziergang. Eine industrieromantische und multikulturelle Wanderung durch das graue Herz des Ruhrgebiets. Über die legendäre Schalker Meile, den Rhein-Herne-Kanal, die Emscher. Von wegen "Drecksloch"! Football is coming home trifft dem Fußball sein Zuhause. Ständig rauscht eine rappelvolle Bahn vorbei, die hat ihren Betrieb wieder aufgenommen. Transpirierende Körper lassen die Scheiben beschlagen. Dass die Engländer im Inneren aber große Lust haben auf den EM-Auftakt ihrer Three Lions, das ist nicht zu überhören.

In diesem Jahr, das glauben sie, sind sie endlich dran. Und mit ihnen glauben das sehr viele Experten. England ist der Topfavorit. 58 Jahre nach Wembley soll wieder ein Titel ins Mutterland des Fußball geholt werden. Kleines Problem: Sie glauben schon länger daran, vielleicht tun sie das gar bei jedem Turnier. Aber in diesem Jahr, in Deutschland, da soll es gelingen. Ohne wenn. Und ohne aber. Auch ein bisschen als Wiedergutmachung für 1996, als England beim Heim-Turnier von der DFB-Elf vom brüllenden Löwen zum jaulenden Kätzchen gemacht hatte. Als Gareth Southgate im Elfmeterschießen in die Arme von Andreas Köpke geschossen und sich der eiskalte Andreas Möller hernach vor den Fans in Wembley tüchtig aufgeplustert hatte.

Southgate ist mittlerweile Chef der Auswahl. Seit einigen Jahren schon. Beim letzten EM-Turnier wurde er aber wieder der tragische Held, weil er sich vor dem Elfmeterschießen im Finale verzockt hatte. Nun soll es keine Tränen mehr geben. Die Löwen wollen nicht mehr jammern, sondern endlich Beute machen. Und sie haben ein mächtiges Alphatier für ihr Rudel erkoren: Jude Bellingham.

Gerade einmal 20 Jahre alt und in der abgelaufenen Saison mindestens schon Vize-Chef bei Real Madrid. Hinter dem deutschen Strategie-Giganten Toni Kroos. Die Reife zum Weltstar holte sich Bellingham allerdings in Dortmund, im "Gelsenkörkener" Feindesland. Einst entschied er sich im Alter von 17 Jahre nach Anschauen des Geisterspiel-Derbys für den BVB. Für seine Karriere die beste Idee. Nach 13 Minuten laserte der Mittelfeldspieler an diesem Sonntagabend einen Kopfball ins serbische Gehäuse, 1:0. England feiert. Für einen Moment hatten sie das Tempo angezogen, die Muskeln angespannt und schon war’s nicht mehr zu verteidigen.

Ein kleines bisschen Beatlemania

Die Party, ihr Warm-Up über den Tag in der Stadt, die ein englischer Vlogger am Tag zuvor als "Drecksloch beschimpft hatte (inklusive Shitstorm) und deren Tristesse ein Sky-Reporter wortreich beklagt hatte (das Video wurde mittlerweile vom Sender gelöscht), so schön und weitgehend friedlich vorbereitet hatte, brach sich nun Bahn. Zig Zehntausende Engländer sangen im Stadion des FC Schalke 04 den Beatles-Klassiker "Hey Jude".

So muss das einst geklungen haben, als die Menschen während der Beatlemania die großen Hits trällerten und träumten. Auch die Fans träumten nun. Vom Titel. Und sie waren bei jeder Aktion des Spielmachers aus dem Häuschen. Etwa als er nach einer halben Stunde den Ball volley aus dem Halbfeld zu Außenverteidiger Kyle Walker knallte. Die Szene war völlig belanglos, der Applaus gigantisch. Vielleicht auch, weil das Spiel sonst nix hergab?

Die Serben schoben 45 Minuten lang Panik, die Engländer sich dagegen den Ball zu. Man kann sich viele schöne Beschreibungen dafür einfallen lassen, um die ungestörte Routine und die vereinzelt schnellen Kombinationen des mit einem Marktwert von über 1,5 Milliarden Euro teuersten Kaders der EM zu loben. Man kann aber auch einfach sagen, wie es war: kaum zu ertragen langweilig. Die Serben versuchten über Härte Selbstvertrauen und einen Zugriff auf diese Auftaktpartie zu bekommen. Bis zur Pause gelang das nicht. In der Kabine dürfte es tüchtig gerappelt haben.

Der serbische Coach Dragan Stojkovic, im feinen blauen Anzug angetreten, pfiff schon nach wenigen Minuten auf die Etikette und warf sein Sakko weg. Das weiße Hemd verrutschte zunehmend beim verzweifelten Versuch, seine eingeschüchterten Männer wachzurütteln und ihnen irgendwie die Teilnahme an diesem Spiel zu ermöglichen. Ein Schuss ihres Starspielers Aleksandar Mitrovic rauschte vorbei. Das war knapp (20.). Fünf Minuten später vergab Kyle Walker nach einem Hochgeschwindigkeitskonter. Das war ebenfalls knapp. Damit sind die sportlich relevanten Ereignisse des Risikospiels abgearbeitet.

Serbien - England 0:1 (0:1)

Tor: 1:0: Bellingham (13.)

Serbien: Rajkovic - Veljkovic, Milenkovic, Pavlovic - Zivkovic (74. Birmancevic), Lukic (61. Jovic), Gudelj (46. Ilic), Kostic (43. Mladenovic) - Vlahovic, Milinkovic-Savic - Mitrovic (61. Tadic); Trainer: Stojkovic

England: Pickford - Walker, Stones, Guehi, Trippier - Alexander-Arnold (69. Gallagher), Rice - Saka (76. Bowen), Bellingham (86. Mainoo), Foden - Kane. - Trainer: Southgate

Schiedsrichter: Daniele Orsato (Italien)

Was war in den Tagen vor dem Anpfiff über dieses Spiel nicht alles berichtet worden. Keine andere Partie bei der EM bekam vorab mehr Aufmerksamkeit, nicht mal der DFB-Auftakt gegen Schottland. Die drohende Hooligan-Invasion war großes Thema, die Polizei bereitete sich auf einen gigantischen Einsatz vor. Jedes noch so heikle Revierderby zwischen Schalke und dem BVB wurde von dieser Aufstellung der Polizei übertroffen. Überall in Gelsenkirchen-Mitte rauschte Blaulicht durch, überall waren Hundertschaften präsent. Insgesamt, so erklärte ein Polizeisprecher gegenüber ntv.de nach Mitternacht, sei es aber relativ ruhig geblieben. Einzig ein Angriff von Hooligans am Nachmittag löste einen großen Einsatz mit Verletzten aus. Im Stadion blieben große Feindseligkeiten ebenfalls aus, bei den Hymnen pfiffen sich beide Lager lautstark aus.

Was ist plötzlich mit England los?

Zurück auf dem Platz hatten die Serben ihre Schläfrig- und Mutlosigkeit aus ihren Hemden geschüttelt. Plötzlich hatte sich das Kaninchen Boxhandschuhe angezogen und forderte die englische Schlange heraus. Phil Foden, der beste Spieler der abgelaufenen Premier-League-Saison und damit qua Auszeichnung einer der derzeit besten Spieler der Welt und Bellingham, der sich schon im ersten Durchgang über die Ruppigkeit des Gegners beklagt hatte, bekamen richtig auf die Socken.

Der erst völlig überforderte Linksverteidiger Strahinja Pavlovic, der in der ersten Halbzeit von Bukayo Sako mehrfach schwindelig gedreht worden war, sprintete plötzlich ins Pressing und schnappte sich Bälle. Problem der Serben: Sie hatten mehr vom Spiel, mühten sich, ackerten, kämpften, bissen, aber ihnen fehlte bis zum Schluss die gute Idee im Abschluss. Jordan Pickford musste nur einmal gegen Dušan Vlahović parieren (82.). Veljko Birmančević' tückischer Aufsetzer aus der Distanz (83.) blieb fünf Meter vor der Torlinie am Kopf von Harry Kane hängen. Am Ende stand ein Expected-Goal-Wert von 0,17. Bedeutet: Die Serben hätten, egal wie lange dieses zähe Spiel gedauert hätte, vermutlich nie ein Tor geschossen.

Sehr zum Leiden ihres Trainers. Der hatte weiter daran gearbeitet, die Etikette mit Füßen zu treten. Er peitschte seine Jungs nach vorne, drehte verzweifelt ab, wenn sie eine andere Idee hatten, als er. Und regte sich maßlos auf, wenn die Engländer bei der Auswechslung bummelten, oder der Schiedsrichter robusten Körpereinsatz ahndete. Das führte schließlich zu Gelb, und hätte der Assistent an der Seite sich nicht weggedreht und die provokanten Gesten von Stojakovic noch gesehen, hätte es womöglich direkt auch zu Rot gereicht.

Die Chance zum kleinen Coup blieb für die Serben indes bis zum Schlusspfiff intakt, weil England sich irgendwo zwischen Lustlosigkeit und einem kleinen Arroganzanfall bewegte. Bereits nach 30 Minuten hatte das Team auf den freitäglichen Beamtenmodus umgeschaltet. Dienst nach Vorschrift und unbeschadet in den Feierabend kommen, das war plötzlich die Maxime. Und so wurde es merkwürdig ruhig im englischen Lager. Ein paar Mal besangen sie noch den König und riefen den Namen "Jude", wenn der mal wieder einen Ball geklaut oder sich schön freigedreht und eine gute Idee hatte.

Die "Sun" drehte nach dem Spiel direkt mal frei, angesichts der zumindest in den ersten 45 Minuten brillanten Leistung von Bellingham: "Wir waren daran gewöhnt, Jude Bellingham mit anderen englischen Fußballern zu vergleichen. Mit Wayne Rooney 2004, mit Paul Gascoigne 1990. Aber darüber sind wir jetzt hinaus. Bellingham ist nicht zu vergleichen mit irgendeinem anderen Spieler, der für die Three Lions im vergangenen halben Jahrhundert gespielt hat."

"Ich bin zuversichtlich, dass wir Tore schießen werden"

Einzig seine Kollegen, die sündhaft teuer gehandelten Foden, Saka und Co., die mit ihrem unglaublichen Tempo englischen Fußball manchmal wie eine andere Sportart aussehen lassen können, hatten nicht so recht einen Plan, was sie mit den Ideen ihres Lenkers, dem vermutlich größten Star dieses Turniers, anfangen sollten. Harry Kane, der in Duelle, die mehr Abnutzungskämpfe waren, gezwungen wurde, köpfte noch einmal an die Latte. England hatte fertig, den vierten Auftaktsieg im vierten Turnier unter Southgate gelandet.

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"Ich bin zuversichtlich, dass wir Tore schießen werden", beschwichtigte der Coach, der in England immer unter massivem Druck steht, auch weil die Mannschaft zu selten das Spektakel auf dem Rasen donnert, das in den Füßen der Einzelnen steckt. "Gegen eine solche Abwehr ist es nicht einfach, sich Chancen zu erspielen, und das haben wir getan. Mir gefiel die Tatsache, dass wir ohne Ball leiden mussten, denn das ist ein Bereich, an dem wir diese Woche viel gearbeitet haben." Mit einer 0:1-Blamage im Test gegen Island war England in das Turnier gestartet. "Wembley-Horroshow" wurde bereits getitelt. Und nun das, die nächste sehr seltsame Vorstellung. Cleverer Beamtenkick oder besorgniserregende Lethargie? England steht vor einem Rätsel, die EM auch.

Ein anderes Rätsel: Was war eigentlich der Plan bei der Abreise? Auch weit über zwei Stunden standen noch zig Fans an den Bahngleisen und warteten auf Möglichkeiten, um in die Innenstadt oder nach Hause zu kommen. Es sei aufgrund der vielen Fans teils zu "deutlichen Rückstauungen" an der Haupt-Haltestelle direkt am EM-Stadion gekommen. Gravierende Probleme seien aufgrund des "besonnenen Verhaltens" der Fans aber ausgeblieben. In den sozialen Medien beschwerten sich zahlreiche Fans über die langen Wartezeiten.

Quelle: ntv.de

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