Außergewöhnliches Final-Gespann Ein "Störenfried" pfeift und ein schlechtes Omen hilft ihm
17.12.2022, 21:41 Uhr
Szymon Marciniak bekommt es schon wieder mit Argentinien zu tun. Und andersrum.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft ist auch das Duell der Superstars Messi und Mbappé. Geleitet wird das größte Spiel des Fußballjahres von einem Schiedsrichtergespann, über das vorher gesprochen werden sollte. Es lohnt sich. Auch, weil es hinterher keinen Anlass mehr dazu geben sollte.
Die Fußball-Weltmeisterschaft hat mit dem Endspiel zwischen Argentinien und Frankreich am Sonntag (16 Uhr/ ARD, MagentaTV und im Liveticker auf ntv.de), zwischen den globalen Superstars Lionel Messi und Kylian Mbappé, ein Finale bekommen, das viele Geschichten liefern wird. Eine eigene schreibt das Schiedsrichtergespann um Szymon Marciniak schon vor dem Anpfiff. Der Pole legte eine besondere Karriere hin: Eine Rote Karte steht am Anfang, eine Herzerkrankung hätte sie beinahe zu früh beendet. Und sein Assistent wiederholt Familiengeschichte, in der die deutsche und auch die argentinische Fußball-Nationalmannschaft eine ganz große Rolle spielen.
Der Weg Marciniaks in dieses Finale ist hart und ungewöhnlich. Er beginnt mit einer Roten Karte irgendwann Anfang dieses Jahrtausends. Marciniak ist damals selbst als Kicker im gehobenen Amateurbereich für seinen Heimatverein Wisla Plock unterwegs, als er bei einem Spiel vom Platz fliegt. In der folgenden Schimpftirade lässt er den Schiedsrichter wissen, dass er der schlechteste sei, den er je gesehen habe. Und der wüst Beschimpfte antwortete: "Wenn du glaubst, dass du es besser kannst, dann versuch es doch!"
Und Marciniak, damals Anfang 20, versuchte es und er machte es gut. "Ich bin ihm sehr dankbar, denn ohne die Rote Karte wäre ich vielleicht nie Referee geworden", sagt er heute. Schon 2009 gab Marciniak sein Debüt in der Ekstraklasa, Polens oberster Liga, seit 2011 ist er FIFA-Schiedsrichter. Marciniak pfiff bei der Europameisterschaft 2016 und der WM 2018 und er wäre auch bei der EM 2020 dabei gewesen - doch dann schlug Corona zu. Im doppelten Sinne.
"Es war eine schwierige Zeit"
Erst wurde die Europameisterschaft wegen der Pandemie verschoben, dann erkrankte der Schiedsrichter. "Ich bin vor dem Virus davongerannt, aber ich war zu langsam", scherzt er später. Doch lustig ist es nicht, wie es danach weitergeht: "Am Anfang war es sehr schwierig für mich, und ich musste mit der Schiedsrichterei aufhören", erklärte Marciniak, der bei der WM 2018 unter anderem das Vorrundenspiel Deutschland gegen Schweden (2:1) geleitet hatte. Wegen einer Tachykardie habe er die EM 2021 verpasst, "für einen Schiedsrichter im besten Alter ein schreckliches Gefühl". Bei einer Tachykardie schlägt das Herz deutlich zu schnell, typische Symptome können Herzrasen oder Atemnot sein. "Es war in den letzten anderthalb Jahren eine schwierige Zeit für mich", sagt Marciniak. Nun das vorläufige Happy End: "Schiedsrichter in einem WM-Finale zu sein, das ist unglaublich."
Nun ist er also da, zwanzig Jahre nach der schicksalshaften Roten Karte von Plock. Und er steht zu Recht da. Szymon Marciniak ist eine beeindruckende Figur. Äußerlich gemahnt er an den legendären Pierluigi Collina, der ehemalige Weltklasse-Schiedsrichter und heutige Schiri-Chef der FIFA: Die Glatze, die klare Mimik, die jede Entscheidung beeindruckend unterstreicht, die Adern, die während des Spiels auf der blanken Stirn hervortreten. Der autoritäre Habitus Collinas, der zu heftigem Protest mit weit aufgerissenen Augen und deutlichen Worten begegnete, ist nicht die Sache des Polen.
"Unbeirrt auch in heiklen Situationen", sei er, sagt Schiedsrichterexperte Alex Feuerherdt ("Collinas Erben") im Gespräch mit ntv.de. Marciniak habe "einen guten Draht zu den Spielern und zeigt Empathie, ohne sie je zu nahe an sich heranzulassen. Erfahren und unbeeindruckt im Umgang auch mit den Superstars, schon deshalb eine ideale Besetzung für ein Finale mit Messi, Mbappé & Co."
"Einer der besten"
In einem Interview mit Uefa.com erklärte Marciniak, woher der empathische Ansatz in seiner Spielleitung kommt: "Ich war ein schwieriger Spieler für Schiedsrichter. Das macht es für mich nun viel einfacher, eine gute Beziehung zu den Störenfrieden auf dem Platz aufzubauen, weil ich genau gleich drauf war. Manchmal mache ich einfach gar nichts, weil ich weiß, wie frustriert ein Spieler sein kann. Deshalb ist es besser, nichts zu sagen und kurz darauf etwas Lustiges zu sagen."
Marciniak kennt beide Teams schon aus seinen ersten beiden Einsätzen in Doha: Zuvor hatte er das 2:1 der Franzosen in der Gruppenphase gegen Dänemark und das 2:1 der Argentinier im Achtelfinale gegen Australien gepfiffen. Erfahrungen, die ihm im Finale helfen werden, sagt Schiedsrichterexperte Alex Feuerherdt von "Collinas Erben": "Marciniak kann ein Spiel normalerweise gut lesen, kennt die Strategie der Teams und richtet die Zweikampfbewertung an den Erfordernissen des Spiels aus."
Das Viertelfinale Argentiniens gegen die Niederlande dürfte maßgeblich für die Nominierung Marciniaks gewesen sein, glaubt Feuerherdt. Er habe "nach zwei sehr guten Leistungen und dem Ausscheiden von Spanien ursprünglich Mateu Lahoz als Favoriten für das Finale ausgemacht, aber er hat sich durch den Kontrollverlust im Spiel Niederlande - Argentinien letztlich aus dem Rennen genommen." Lahoz hatte in einem komplizierten Spiel mit 15 Gelben Karten einen WM-Rekord aufgestellt, nach dem Abpfiff des Elfmeterschießens zeigte er dem Niederländer Denzel Dumfries noch die Rote Karte. "Ich möchte nicht über Schiedsrichter sprechen, weil du bestraft werden kannst. Du kannst nicht sagen, was du denkst", schimpfte Lionel Messi hinterher. Dieser Referee aber sei dem Spiel nicht gewachsen gewesen.
Dabei hatte Lahoz in der 89. Minute im Rahmen einer wilden Rudelbildung wohl fälschlich auf Platzverweise verzichtet. "Da ist ihm das Spiel entglitten und das merkt ein Schiedsrichter", kritisierte Bundesliga-Schiedsrichter Patrick Ittrich bei MagentaTV. Unter Marciniak sollte das nicht passieren, sagt Feuerherdt: "Zu seinen Stärken gehört aus meiner Sicht, dass er sehr klar, fest und schnell in seinen Entscheidungen ist und sie auch gegen Widerstände durchsetzt, ohne die Kontrolle zu verlieren. Er gehört wirklich zu den stärksten europäischen Referees und hat das Finale verdient."
"Das ist eine tolle Geschichte"
Eine eigene Geschichte schreibt am Sonntag Marciniaks Assistent Tomasz Listkiewicz. Es ist die Fortsetzung der sportlich erfolgreichen Familiengeschichte: Listkiewicz' Vater Michal hatte seinen Auftritt auf der größten Bühne des Weltfußballs vor mehr als 32 Jahren. Deutsche und argentinische Fans werden sich erinnern, auch wenn wohl niemand einen Namen oder gar ein Gesicht parat hat: Michal Listkiewicz assistierte am 8. Juli 1990 Schiedsrichter Edgardo Enrique Codesal Méndez aus Mexiko im WM-Finale zwischen Deutschland und Argentinien. Deutschland gewann 1:0 durch einen umstrittenen Elfmeter kurz vor Schluss, Argentinien verlor zwei Spieler durch Platzverweis und zürnt noch heute wegen eines nicht gegeben Strafstoßes.
Listkiewicz senior war es dann, der in einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Schlussphase Codesal gegen die Angriffe enttäuschter Argentinier um Diego Maradona verteidigen musste. Nun also wieder Endspiel, wieder Argentinien, wieder Listkiewicz. "Das ist eine tolle Geschichte und ich bin sehr stolz darauf, weil Tomasz sehr schüchtern ist", sagte Marciniak. Über die Schiedsrichterleistung von Rom 1990 sprechen sie noch heute in Argentinien, das seit 36 Jahren auf den dritten WM-Titel wartet. Das soll sich nicht wiederholen und Schiri-Experte Feuerherdt ist optimistisch: "Ich bin wirklich gespannt, aber zuversichtlich, dass der Schiedsrichter nach dem Endspiel nicht im Zentrum der Gespräche steht."
Michal Listkiewicz stand 1990 noch bei einem zweiten Spiel Argentiniens an der Linie: Gleich zum Auftakt der WM spielte der Titelverteidiger gegen den krassen Außenseiter Kamerun. Wieder gab es zwei Rote Karten - diesmal für die anderen - und wieder gab es ein 0:1. Argentinien verlor zweimal mit Listkiewicz an der Linie.
Quelle: ntv.de