Das Tagebuch zur WM in Katar Katar-Kapitalismus setzt auf tödliche Eigenverantwortung

Klare Kante auf der Baustelle.

Klare Kante auf der Baustelle.

(Foto: Stephan Uersfeld)

Es bleibt unklar, wie viele Menschen im Vorfeld der Fußball-WM in Katar ums Leben gekommen sind. Beim Turnier selbst sind fünf Todesfälle dokumentiert. Neben drei Journalisten versterben zwei Arbeiter. Dabei zeigt eine "Musterbaustelle", dass mit Eigenverantwortung alles geht.

Das WM-Viertelfinalspiel zwischen den Niederlanden und Argentinien steht unter keinem guten Stern. Zwei Menschen lassen ihr Leben nach Unglücken im Lusail-Stadion. Neben dem plötzlichen Tod des renommierten US-Fußballjournalisten Grant Wahl, der an einer Ruptur des Aortenaneurysma (Erweiterung der Hauptschlagader) mit einem Bluterguss im Herzbeutel stirbt, kommt auch der Security Guard John Njue zu Tode. Er stürzt nach dem Spiel aus "signifikanter Höhe" und stirbt drei Tage später im Krankenhaus.

Nun sind bereits fünf Todesfälle im Laufe des Turniers dokumentiert. Es handelt sich dabei um drei Journalisten und zwei Arbeiter. Neben Wahl versterben der katarische Fotojournalist Khalid al-Misslam und Roger Pearce, der technische Direktor des britischen TV-Senders ITV Sport. Neben Njue kommt ein offenbar aus den Philippinen stammender Mann infolge eines Unfalls bei Reparaturarbeiten im Teamhotel Saudi-Arabiens ums Leben. Fünf. Das ist eine erstaunliche Zahl nach jetzt vier Wochen WM in Katar.

In den Jahren zuvor sollen auf den Baustellen der WM nur drei Arbeiter überhaupt ums Leben gekommen sein, sagt der Veranstalter. Der bedauert jeden einzelnen Tod eines Arbeiters kaltherzig. Im Laufe des Turniers werden die Zahlen plötzlich kurzfristig auf 400 bis 500 nach oben korrigiert. Aber schon bald findet sich eine neue Erklärung, warum diese Zahl nicht nur auf die WM zu beziehen sei. Wenig überraschend.

Die Welt kann Deutschland nicht mehr verstehen

Der dominierende Kritikpunkt an Katar ist im Vorfeld lange Zeit der inhumane Umgang mit denen, die für den Bau der Spielstätten und der Infrastruktur des Turniers ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren - mit den Arbeitsmigranten aus Bangladesch, Nepal und Indien. Davor gibt es bereits die Korruptionsvorwürfe, später die mangelnden Frauenrechte und auch noch das Verhältnis des Gastgeberlands zu Mitgliedern der LGBTQ-Community.

Homosexualität sei nichts weiter als ein "geistiger Schaden", sagt ein WM-Botschafter in einer weit vor Turnierbeginn aufgezeichneten ZDF-Dokumentation. Die wird nur wenige Tage vor dem Auftakt der WM ausgestrahlt. Sie lässt die ohnehin bereits tobende "Boykott Qatar"-Bewegung in Deutschland eskalieren. Auch andere europäische Länder entfernen sich weiter vom größten Turnier im Weltfußball. Das Fass ist längst übergelaufen, der Boykott sorgt in Deutschland schlussendlich für einbrechende TV-Quoten.

Das ist auch ein Thema in Katar. Die aus nicht-europäischen Ländern angereisten Fans und Journalisten wundern sich in Gesprächen immer wieder, wie es dazukommen konnte. Sie sagen, dass die "Europäer lernen müssen, dass sich die Welt nicht nur um sie dreht" und bemitleiden gerade auch Deutschland. "Das Turnier ist nur alle vier Jahre. Sie müssen sich nicht geißeln", sagen sie und das Turnier geht eben weiter. Die Unzufriedenheit mit dem korrupten System Fußball steht nicht überall im Vordergrund, wie nicht zuletzt auch die Jubelbilder aus Argentinien zeigen.

Arbeiter suchen etwas Besseres als die Armut

Die Auswüchse des modernen Fußballs haben jedoch trotz all der Kritik und all dem Unverständnis für die europäischen Positionen zu eben jenem Katar-Kapitalismus geführt, in dessen Zentrum auch das komplette Verschwinden des Individuums steht. Für jeden verstorbenen Arbeiter im Zusammenhang mit der WM stehen schon zehn neue Schlange, lässt sich angesichts der in Doha angesammelten Menschenmassen beobachten.

In Gesprächen berichten sie vom Leben in ihrer Heimat und davon, wie sie in den für europäische Verhältnisse mit erbärmlich noch zu positiv beschriebenen Verhältnissen eine Aufwertung ihrer Existenz erfahren. Die Arbeiter aus Bangladesch, aus Nepal, aus Indien, von den Philippinen und die Hilfskräfte aus den afrikanischen Staaten sind überall präsent im Stadtbild, sie sind das Füllmaterial, das Doha zu einem niemals schlafenden Gebilde macht.

Spät in der Nacht sitzen sie vor den niemals ruhenden Cafés und kleinen Supermärkten. Sie trinken einen Tee in der Pause und gehen dann zurück auf die Baustellen, auf denen sie in der Nacht ihre Arbeit verrichten, um der Hitze zu entkommen. Das Tagarbeitsverbot ist eine der von Katar für sich reklamierten Verbesserung der Rechte der Arbeiter. Die werden, wie auf Spaziergängen durch Doha zu beobachten ist, vom Katar-Kapitalismus sonst zur Eigenverantwortung erzogen.

Die Sache mit der Eigenverantwortung

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Wie früher in den Zechen des Ruhrgebiets sind an einer mit Musterbaustelle sicher als zutreffend beschriebenen Baustelle in der Nähe des zentralen Hubs der Stadt, dem Bahnhof Msheireb, etliche Warnhinweise zu sehen. "Triff die Person, die für Deine Sicherheit verantwortlich ist", steht über einem Spiegel im Eingangsbereich, daneben ist ein Schild mit dem Hinweis "Sicherheit liegt in der Verantwortung aller" zu sehen.

Nur einige Meter weiter hinein in den Baustellenbereich feuert ein Aufsteller die Arbeiter an: "Keine Unfälle muss das Ziel sein." Eine Infotafel mit den wichtigsten Sicherheitshinweisen belehrt: Hitze vermeiden, viel Wasser trinken, bei defekten Stromkabeln Vorsicht walten lassen, sich vor herumfliegenden Bohrern und Sägen schützen und immer daran denken, dass ein "Beinaheunfall heute" schon morgen ein Unfall sein könnte. Einer, der im schlimmsten Fall den Todeszahlen eine weitere Nummer hinzufügt.

Quelle: ntv.de

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