Das Tagebuch zur Wüsten-WM Presse in Katar gerät in gefährlichen Sog
13.12.2022, 11:59 Uhr
Eine Spinne umgarnt die Journalisten im Medienzentrum der WM.
(Foto: picture alliance / Matthias Koch)
Drei Todesfälle unter den WM-Journalisten schockieren die Presse in Katar. In die Berichterstattung des Turniers hat sich eine gnadenlose Überarbeitung eingeschlichen, die für einen gefährlichen Sog sorgt. Eine Geschichte über Rausch, Kollaps und die ungesunde Leistungsgesellschaft.
"Drei Wochen mit wenig Schlaf, hohem Stress und sehr viel Arbeit haben dazu geführt, dass mein Körper schlapp macht", schreibt der US-Journalist Grant Wahl Anfang vergangener Woche in seinem WM-Blog, "was anfangs eine Erkältung war, hat sich in der Nacht des Achtelfinals zwischen den USA und den Niederlanden in etwas Ernsteres entwickelt. (…) Nun habe ich Antibiotika bekommen und (…) es geht mir ein bisschen besser. Aber noch immer: No bueno!". Wahl macht weiter. Zweimal begibt er sich nach eigenen Angaben in ärztliche Behandlung. Am frühen Samstag bricht er beim Viertelfinalspiel Argentinien gegen Niederlande zusammen. Jede Hilfe kommt zu spät. Der Reporter stirbt. Die Todesursache ist noch ungeklärt.
Im Anschluss an das größtmögliche Unglück, das die Autoren dieses Textes aus nur wenigen Metern Entfernung beobachten, herrscht Sprachlosigkeit. Wie konnte das passieren? Es ist ein Moment, in dem ein erschreckter Rückblick auf die vergangenen Wochen bei der Fußball-WM zeigt, wie sehr sich bei vielen Journalistinnen und Journalisten in Doha eine Arbeitsweise eingeschlichen hat, die keine Ruhe duldet und meist auch überhaupt nicht ermöglicht. Das hängt mit dem Turnier, den Anstoßzeiten und mit den Arbeitsbedingungen zusammen, die auf den ersten Blick ideal erscheinen, den Körper jedoch einem steten und abrupten Wechsel der Temperaturen aussetzen. Das hängt mit dem Rausch im Turnier genauso zusammen, wie mit der nervenzerfetzenden Lautstärke, der nicht zu entkommen ist.
Die dichte Taktung des Turniers mit vier Spielen pro Tag in der Gruppenphase, die für den europäischen Markt angenehmen, vor Ort aber herausfordernden Anstoßzeiten der späten Partien um 22 Uhr Ortszeit reißen die Autoren in einen irrationalen, schwarzen Tunnel, in dem es nur noch um die Wege, die Spiele, die Texte, die Pressekonferenzen und tausend andere Themen geht. Zu viel Stress gab es auch bei den Weltmeisterschaften 2010, 14, oder 18 - aber anders als bei vorherigen Turnieren ist es in Katar während der Vorrunde möglich, zwei, vielleicht sogar mehr Spiele pro Tag zu sehen. Ein Privileg, aber auch ein Problem.
Kurz vor dem Kollaps
Aus kurzen Wegen werden lange, sehr lange Wege. Vom Al Thumama zum Lusail, vom Medienzentrum raus in die Wüste nach Al Bayt und zurück gegen 3 Uhr Ortszeit. Immer gibt es etwas zu sehen, zu erzählen, zu besprechen. Vier, fünf Stunden Schlaf und weiter. Agenturjournalisten erzählen von ihren täglichen Einsätzen bei Spielen, bei Pressekonferenzen. "Bei anderen Turnieren", sagt einer, "hat jeder von uns vielleicht sechs Spiele gemacht, jetzt kommen wir alle auf deutlich zweistellige Zahlen."
Das Gefühl, alles abgedeckt zu haben, stellt sich nie ein. Ständig passiert etwas Neues, wirklich "fertig" ist man mit der Arbeit nie. Eine fast schon toxische Produktivität macht sich breit, saugt die Autoren in den schwarzen Tunnel, aus dem es kein Entkommen gibt. Drei Wochen am Stück geht das so. Beim Frühstück den ersten Text schreiben. Kurz duschen. Raus in die Welt, Interviews führen, Beobachtungen machen, recherchieren. Gegen Mittag vielleicht noch einen weiteren Text schreiben, weil FIFA-Boss Infantino wieder mal durchdreht. Abends in irgendein Stadion, von dem man längst nicht mehr weiß, welche Spiele man dort schon beobachtet hat. Anschließend in die Mixed Zone oder auf die Pressekonferenz. Bis tief in die Nacht. Irgendwie nach Hause. Dort wartet das Schreiben des Spielberichts. Gute Nacht.
All das wirbelt die Autoren durcheinander, raubt den Schlaf. Knabbert immer stärker an der Psyche. Macht sie gereizter. Anfälliger. Einer der Autoren ist nach mehreren kurzen Nächten in Folge und dem anschließenden DFB-Aus, das in Doha bis um halb sechs Uhr morgens bearbeitet wird, am Tag darauf kurz vor dem Kollaps. Schweißausbrüche, Flimmern vor den Augen, Panik. Der Kreislauf ist im Eimer, zu wenig Essen und Energie im System. Das Gehen fällt extrem schwer, aber er sitzt schon im Stadion beim nächsten Spiel. Irgendwie schleicht er sich in die U-Bahn. Noch Tage darauf verwandeln sich die Gliedmaßen immer mal wieder in Gummi.
Warum nur diese Stress-Spirale?
Keine Pause. Gibt ja immer was zu tun. Viel davon ist selbst auferlegt. Der Rausch der nächsten Story. Die WM wird zur vierwöchigen Verschärfung aller ungesunden Teile der Leistungsgesellschaft, die im Journalismus stark um sich greifen. Alles immer schneller recherchieren und aufschreiben. Hier noch ein Kommentar, da noch eine Analyse. Die Gier befriedigen. In Katar sind die Autoren gefangen in dieser Denke. Ausbruch unmöglich. Schon interessant, wie stark sie verankert ist: Familie, Freunde und Kollegen warnen, dass man sich nicht überarbeiten soll. Aber man tut es trotzdem. Hört einfach nicht auf den Rat, den man umgekehrt genau so geben und für richtig und wichtig halten würde. Warum nur? Weil die Trostlosigkeit der Glitzerfassaden Dohas ohnehin keine Abwechslung bietet? Weil Leistung als Bestätigung gilt und Selbstwert sich oft aus der Arbeit ergibt?
Viel arbeiten und sogenannte Stressresistenz genießen kollektive Akzeptanz. Damit kann man sich regelrecht profilieren. Wie ungesund das ist, führt die Arbeit in Katar deutlich vor Augen. Als der DFB nach dem Achtelfinale Südkorea gegen Brasilien die Nachricht des Abschieds von Oliver Bierhoff verbreitet, geht es in Doha auf Mitternacht zu. Weil der Rhythmus ohnehin komplett zerstört ist, wird auch das noch verarbeitet. Ein Kollege sagt, dass er seine privaten Nachrichten nur noch ins Telefon diktiere. Er habe keine Zeichen mehr in sich.
Erst am vergangenen Samstag kam die Abkühlung. Nur noch 25 Grad. Vorher ist es bis zu 32 Grad warm. In den runtergekühlten Stadien bricht die Temperatur auf unter 20 Grad ein, in den klimatisierten Räumen des Medienzentrums und den Shuttle Bussen, in denen die Fotokollegen ihre Bilder bearbeiten, fröstelt es. Dann wieder 25 Grad um 3 Uhr in der Nacht, der Weg zur Metro, Kälte, Wärme. Ein steter Wechsel. Dass diese Last im Sommer noch ganz andere Ausmaße annimmt und das Leid der Arbeitsmigranten und ihre Anfälligkeit für Überarbeitungen, Erschöpfungsunfälle oder Herzmuskel-Entzündungen dadurch enorm sein muss, ist ein anderes Thema.
Kein Entkommen, keine Ruhe
In den Aufzügen der Medienhotels husten die Journalisten, schleppen sich mit letzter Kraft zum Frühstück oder mit Fieber ins Krankenhaus. Ständig erzählt einer, wie er tagelang auf seinem Zimmer hockte. Mit einer schweren Erkältung, mit Obst und Wasser und fiebrigen Augen. Überall wird auf Covid getestet, doch das Virus ist trotz der in Doha komplett aufgehobenen Maßnahmen wenig präsent. Es sind die Erschöpfung, die von den Klimaanlagen und der Schlaf- und Ruhelosigkeit ausgelösten Schwächephasen, die in Doha dominieren.
Im Auge des Turniers, eingesogen in den tiefschwarzen Tunnel, gelingt es selten, einen Schritt zurückzutreten. Immer schneller, immer mehr und immer lauter. Denn egal, ob im Stadion oder in den Malls der Stadt, es knallt die Musik, knallen die Lichter direkt in die erschöpften Knochen. Vollgestopfte Metros oder Busse, Menschenmassen, krachende Boxen, die in Dauerschleife die schlimmsten Partyhits auf den Körper und Geist loslassen. In den Arenen scheppert es so laut, dass vor Anpfiff der Spiele kein klarer Gedanke mehr möglich ist.
Roger Pearce, technischer Direktor des britischen TV-Senders ITV Sport, stirbt schon am 21. November während der WM. Am Samstag stirbt auch der Fotojournalist Khalid al-Misslam vom katarischen Nachrichtensender Al-Kass. Genaue Informationen über die Todesursache gibt es noch nicht. Wenn Überarbeitung eine Rolle gespielt haben sollte, wäre dies keine Überraschung unter der Journalistinnen und Journalisten in Doha. Kein Entkommen. Keine Ruhe. Weil es immer weiter geht. Weil das Adrenalin den Körper längst übernommen hat - bis er zusammenklappt.
Quelle: ntv.de