Fußball

Vom Sonderling zum Lieblingskind Bayer Leverkusen verführt den deutschen Fußball

Xabi Alonso erobert mit Bayer Leverkusen die Herzen der deutschen Fußball-Fans.

Xabi Alonso erobert mit Bayer Leverkusen die Herzen der deutschen Fußball-Fans.

(Foto: IMAGO/BSR Agency)

Bayer Leverkusen ist plötzlich das Lieblingskind des deutschen Fußballs. Mit einer beeindruckenden Konstanz rast die Mannschaft von Xabi Alonso dem kleinen Triple entgegen. Doch was macht diese Werkself eigentlich gerade so besonders?

Plötzlich polarisiert Bayer 04 Leverkusen. Das hat es in der jüngeren Geschichte des deutschen Fußballs so auch nicht gegeben. Aber so ist das eben hierzulande, irgendwas ist schließlich immer. 40 Gegner (manchmal zweimal) nacheinander haben versucht, die Mannschaft von Xabi Alonso zu bezwingen, niemand hat es geschafft. Dem letzten Team, dem dieses Kunststück gelang, war übrigens der VfL Bochum am letzten Spieltag der vergangenen Spielzeit. Schon werden die ersten ganz zarten Rufe nach einer langweiligen Dominanz laut - und die Hoffnung auf das Ende der Unbesiegbaren. Der FC Bayern lässt grüßen!

Einige Gegner waren nah dran, diese unfassbare Serie zu brechen, sehr nah sogar - und niemand wohl näher als Aserbaidschans Spitzenklub Qarabağ Ağdam im Achtelfinal-Rückspiel der Europa League -, aber die Werkself hat großen Gefallen daran gefunden, das Drama auf ihre Seite zu ziehen. Die Geschichte soll sich nicht wiederholen, nicht wie am 20. Mai 2000, als Bayer bei der SpVgg Unterhaching kollabierte, als Michael Ballack ein Eigentor schoss, und der FC Bayern auf den letzten Metern vorbeizog. Und nicht wie 2002, als der Verein auf den letzten Metern alle drei Titelchancen ungenutzt ließ, im Finale der Champions League gegen Real Madrid und Zinédine Zidane unterlag und in der Liga fünf Punkte Vorsprung an den letzten drei Spieltagen verdaddelte. Ein bis heute einmaliger Vorgang.

RTL überträgt Leverkusen im Free-TV
  • RTL überträgt das Hinspiel von Bayer Leverkusen im Viertelfinale der Europa League gegen West Ham United live im Free-TV.
  • Das Duell des souveränen Bundesliga-Tabellenführers gegen den englischen Erstligisten findet am kommenden Donnerstag um 21.00 Uhr statt.
  • Bei RTL+ sind zudem alle Begegnungen der Europa League und der Conference League in Einzelspielen und als Konferenzen zu den Anstoßzeiten um 18.45 Uhr und 21 Uhr zu sehen.

Dass Leverkusen in dieser Saison so robust gegen alle Widerstände ist, gegen alle Gegner, fasziniert viele Menschen. Sie haben sich für den Moment verguckt in Xabi Alonso, diesen höflichen Supercoach. Sie haben sich verguckt in den kleinen Zauberer Florian Wirtz, in den furios aufspielenden Jeremie Frimpong, in Sturmbüffel Victor Boniface, in den erstarkten DFB-Verteidiger Jonathan Tah, in Toni Kroos' neuen Bodyguard Robert Andrich und in den Kunstschützen Alejandro Grimaldo. Ja, Bayer stand auch in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten, immer mal wieder für Mannschaften mit besonderer Spielkultur. Da war vor nicht allzu langer Zeit das Duo Julian Brandt und Kai Havertz, das wundervollen Fußball bot. Oder aber die vielen Brasilianer, angefangen mit Tita 1987, oder später Paulo Sérgio, Emerson, Zé Roberto, Lúcio und Bernd Schneider (kleiner Scherz!), die in den 90ern und Anfang der 2000er tricksten. Und natürlich Ballack oder Toni Kroos, die sich unterm Bayerkreuz für die ganz großen Aufgaben im Weltfußball vorbereitet haben.

Der Faktor Xabi Alonso

Aber eine solche Mannschaft wie die aktuelle, die hat es in der Vereinsgeschichte der Werkself wohl noch nie gegeben. Über mehrere Transferperioden hinweg ist dieses Team gewachsen. Der Verein konnte dabei auch seinen Wettbewerbsvorteil nach der Corona-Zeit ausspielen. Mit dem Konzern im Rücken ließen sich die Belastungen der Pandemie besser ertragen als an manch anderem Bundesliga-Standort. Aber die große Erzählung dieses Teams ist eine andere. Die von Alonso und die von einem bemerkenswerten Scouting. Der Trainer, der die Mannschaft im Oktober 2022 im Abstiegskampf übernahm, hat ihr eine mitreißende Spielidee verpasst und sie in so kurzer Zeit zu einer Supermannschaft geformt, dass sich Europas Elite um den Coach balgte. Der FC Bayern, auch der FC Liverpool. Und perspektivisch auch Real Madrid, wo Carlo Ancelotti allerdings noch weitermachen will und angreifbar ist. Aber der Coach bleibt Bayer treu - mindestens nächste Saison.

Und den Faktor Alonso, der als Spieler im Weltfußball eine ganz große Nummer gewesen war, darf man nicht unterschätzen. Nicht für die Entwicklung der Mannschaft. Nicht als Anker für die Spieler des aktuellen Kaders und ihre Zukunft. Und nicht als Magnet für potenzielle Neuzugänge. Alonso war Dirigent bei Real Madrid, beim FC Liverpool und auch beim FC Bayern. Überall reden sie gut über den charismatischen und empathischen Spanier, der sich immer mehr anschickt, sein Wirken auf dem Platz an der Seitenlinie in Gold (oder Silber, weil die Schale eben Silber ist) zu gießen. Er hat dieses Monster erschaffen, das sich unersättlich durch alle Wettbewerbe frisst und tatsächlich vom kleinen Triple (mit Europa League statt Champions League) träumen darf.

Und wie es das tut. Nach dem furiosen Sieg im DFB-Pokalhalbfinale gegen Fortuna Düsseldorf (4:0) eilten die Spieler in die Kurve und feierten im Pyronebel mit ihren Fans. Solch emotionalen Bilder hatte die Werkself nur selten in die Wohnzimmer des Landes geliefert. Zu den Schwärmenden gehört seit Mittwoch auch Fortunas Coach Daniel Thioune: "Unsere Reise endet im Erlebnispark BayArena. Willkommen in der Realität. Aber wer einmal in so einer Achterbahn saß, geht gerne auch wieder ein zweites Mal rein, weil es doch ganz cool war." Und auch von seinem Trainerkollegen ist er hin und weg: "Er kommt nach dem Spiel direkt zu mir und wünscht mir viel Glück, dass wir uns nächstes Jahr wiedersehen. Er hat gerade das Finale erreicht, er hätte auch auf den Zaun klettern können. Aber das macht diesen Sportler, diesen Menschen und diesen Trainer einfach aus."

Der Sonderling von der A3

Ein anderer Macher: Simon Rolfes, Ex-Spieler und mittlerweile Geschäftsführer Sport. In die Zuständigkeit von ihm und seinem Team fällt die Transferpolitik, die in jüngerer Zeit fast nur Volltreffer produzierte. Wer hätte denn gedacht, dass der zentrale Mittelfeldspieler Granit Xhaka noch einmal der Allerbeste auf seiner Position wird? Wer hätte gedacht, dass Boniface seine starke Saison bei Royale Union Saint-Gilloise pulverisieren würde? Und wenn jemand erwartet hätte, dass Grimaldo die Welt mit seiner technischen Klasse und Genialität erobert, wäre er dann wirklich in Leverkusen gelandet? Oder nicht doch bei einem Riesen in England oder Spanien?

Ein kleines bisschen erinnert die Bayer-Elf an jene von Borussia Dortmund, Anfang der 2010er-Jahre, die damals ebenfalls mit jungen Talenten und erfahrenen Anführern die Herrschaft des FC Bayern zumindest kurzfristig unterbrach. Wenngleich der Ruhrpottgigant von einer ganz anderen, viel gigantischeren Emotionalität geprägt ist. Was aber beide Geschichten ebenfalls eint: ein Trainer, der die Herzen des Vereins und weit darüber hinaus erobert. Auch Bayer kann gelingen, was der Borussia damals gelungen war, wofür die Dortmunder gefeiert wurden. Nämlich kein One-Hit-Wonder zu sein. Wenn die Mannschaft weitgehend zusammenbleibt, was sie in Leverkusen glauben, und der FC Bayern seine Sinnsuche noch ein wenig verlängert. Dort steht alles vor dem Umbruch, ein neuer Trainer muss her, eine neue Mannschaft soll es auch.

Die Transformation von Bayer Leverkusen ist so oder so beeindruckend. Über Jahre hinweg war der Verein dem Großteil der Fans hierzulande egal. Echte Liebe, wie beim BVB, eine unerschütterliche Leidensgemeinschaft, wie beim FC Schalke, eine euphorische Passion, wie beim 1. FC Köln, oder auch eine gigantische Gemeinde, wie der FC Bayern, für all das stand die Werkself nie. Eher für mickrige TV-Quoten bei Livespielen. Sie war ein Sonderling, mit dem Konzern im Hintergrund, mit dem Stadion an der A3, das an einer Seite eine Fensterfassade statt einer großen Tribüne hat und eingepfercht ist in die Einflugschneisen der Metropole Köln. Und sie, die Werkself, blieb emotional und von der Fanszene her immer der allerkleinste aller Traditionsriesen am Rhein - hinter Borussia Mönchengladbach, dem 1. FC Köln und Fortuna Düsseldorf. Die emotionalsten Derbys am großen Fluss finden woanders statt, ohne Bayer. Die Werkself war ein Sonderling, der allerdings für die allermeisten Menschen zur Fußball-Sozialisation dazugehört, weil der Klub schlicht und einfach schon seit 1979 - und damit über mehrere Fan-Generationen hinweg - in der Bundesliga spielt.

Bayer hat Typen, die andere nicht haben

Anders als der VfL Wolfsburg, die TSG Hoffenheim und RB Leipzig, mit denen so viele Fußballbegeisterte noch immer fremdeln. Die für so vieles stehen, was die meisten Fans ablehnen. Doch Bayer sticht heraus, womöglich weil es schon immer da war. Womöglich aber auch, weil Menschen diesen Verein geprägt haben, die das Land in ihren Bann ziehen konnten. Das ist zuerst natürlich Reiner Calmund, der langjährige Manager, der in Brasilien die Fußball-Juwelen ausgrub und nach der Wiedervereinigung die halbe DDR plünderte. Der Sprüche am Fließband lieferte und sich mit dem FC Bayern anlegte. Da ist Rudi Völler, der Weltmeister, der Klartext-Redner, der sich immer treu blieb und sich mit seiner Authentizität große Zuneigung erwarb. Da ist aber auch Christoph Daum, der ewig streitbare Trainer. Den anderen Konzern-Klubs gehen diese Persönlichkeiten (noch) ab.

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In dieser Saison aber fliegen der Mannschaft tatsächlich die Herzen vieler Menschen zu. Weil die Werkself mitreißenden Fußball spielt, weil sie Spiele für die Jahresrückblicke abliefert - das Pokal-Viertelfinale gegen den phänomenal starken VfB aus Stuttgart oder das absurde Europa-League-Achtelfinale gegen Qarabağ Ağdam, das Patrik Schick im Rückspiel in der 93. und 97. Minute auf die Seite der Leverkusener zog. Man muss derzeit schon lange nach belastbarem Material suchen, um gegen die aktuelle Magie dieser Mannschaft zu argumentieren. Sie hat sich eine Selbstverständlichkeit erspielt, die ihre Kontrahenten regelmäßig in Ehrfurcht erstarren lässt.

Aber ihr fliegen auch viele Herzen zu, weil sie plötzlich tatsächlich dazu taugt, die jenseits des Rekordmeister-Kosmos' (und der Rhein-Rivalen) so große Sehnsucht nach elf Jahren Titel-"Tyrannei" des FC Bayern zu stillen.

Quelle: ntv.de

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