
Das "wichtigste Spiel aller Zeiten" elektrisiert Boca- und River-Fans weit über Argentinien hinaus.
(Foto: imago/ZUMA Press)
Ein Finale elektrisiert ein Land, einen Kontinent und die Fußballwelt: Boca Juniors gegen River Plate. Hundert Jahre nach ihrem ersten Derby geht es beim argentinischen Duell um den wichtigsten Titel in Südamerikas Klubfußball.
Menschen drängen sich an der Straßenecke Juan De Dios Filiberto und Brandsen, sie versuchen, Fotos zu erhaschen. Dort, gegenüber des Stadionhaupteingangs, posiert ein Mann in blauem Trikot mit gelbem Bruststreifen gemeinsam mit einem anderen in Weiß mit diagonaler roter Schärpe. Ist das nun ein Affront im fußballerischen Feindesland oder ein Friedensangebot? Umstehende Fans von Boca Juniors und River Plate machen sich im Chor bemerkbar. Linienbusse und Lastwagen schieben sich hinter ihnen durch die schmale Straße, vorbei an aufmerksamen Polizisten, Bauarbeitern, die letzte Löcher im Bürgersteig stopfen, anderen, die das Gelb am Stadion mit Hochdruckreinigern abspritzen, verschiedenen Fernsehkameras und Menschengruppen, denen Touristenführer in akzentuiertem Englisch versuchen, auf den letzten Drücker den Mythos der blau-gelb bemalten Bombonera zu erklären.

Ruhe vor dem Sturm: Die Messi-Statue steht, die Chorizo duftet. Alles ist angerichtet.
(Foto: Roland Peters)
Es ist der Tag vor dem großen Finalhinspiel der Copa Libertadores, seit Wochen schon gibt es im ohnehin fußballverrückten Argentinien kaum ein anderes Alltagsthema. In die Anspannung, die durch die Straßen des Hafenviertels La Boca weht, mischt sich Grillduft. "Chorizo, Chorizo", preist die ältere Frau im Wellblechbau ihre argentinische Stadionwurst an. "Heute ist es noch total ruhig", sagt sie, "alles entspannt". Wie zum Beweis lässt sich eine schwarz-weiße Katze von einem Hund ein hingeworfenes Stück Fleisch wegnehmen. Nicht ein Schnurrhaar zuckt. Am Samstag wird sie verschwunden sein, die Straßen um das Stadion herum gesperrt und die Polizei aufmarschieren. "Es wird total irre", sagt die Verkäuferin vorausahnend.
Der Clásico, das ist Spaniens Real Madrid gegen den FC Barcelona. Der Superclásico, das ist Boca gegen River aus dem wohlhabenderen Norden von Argentiniens Hauptstadt. Wohl kein Fußballspiel in Südamerika elektrisiert Fans mehr. Seit einem Jahrhundert kommt es zu diesem Duell innigster Rivalen, die einst beide in La Boca spielten, bis River umzog. Die Bilanz in Pflichtspielen ist erstaunlich ausgeglichen: 88 Mal gewann Boca, 81 Mal River, 77 Mal endete der Superclásico remis. "Die Mutter aller Finals", so nennt der Fußballweltverband Fifa das Aufeinandertreffen der Klubs.
Regen macht am Samstag zwar Fans und Klubs zwischenzeitlich einen Strich durch die Rechnung, das Hinspiel im Pendant zur europäischen Champions League findet nun einen Tag später, am Sonntag, 11. November um 20 Uhr deutscher Zeit statt. Sie kämpfen um die Krone des kontinentalen Klubfußballs. Bleibt Boca nach dem Rückspiel am 24. November siegreich, könnte es gar mit CA Independiente gleichziehen, der den Titel bereits sieben Mal gewann. Dessen Stadion steht nur eine Viertelstunde Autofahrt entfernt.
Einer der älteren Männer, die vor den noch verschlossenen Toren herumlungern, um Eintrittskarten zu handeln, brüllt plötzlich. ¿Quién gana? ¡Boca es campeón!, "Wer gewinnt? Boca ist der Champion!" Wütend wendet er sich von dem fragenden Käufer ab. Seine Kollegen bleiben betont teilnahmslos. Etwas abseits vom Haupteingang, an den sozialistisch stilisierten Wandgemälden vorbei, stromert hinter der steilen Logentribüne ein weiterer Verkäufer umher. Zwei Karten hat er, 300 US-Dollar will er pro Stück haben. Der monatliche Mindestlohn in Argentinien liegt ein paar Dollar darunter. Wie er an die Tickets gekommen sei? La 12, der "zwölfte Mann" und zugleich die fanatischste Fangruppe von Boca in der barra brava, habe Tausende Karten erhalten und er davon ein paar abbekommen. "So läuft das hier", sagt er grinsend und zeigt auf die mit Fanklubsprüchen bemalten Außenwände des Stadions.
Bebender Rasen
Wer wo mit wem den Superclásico guckt, gehört bereits jetzt zur Legendenbildung um dieses Finale. Wer es in die Bombonera schafft, die Bonbonschachtel, wie das Stadion wegen seiner eckigen Form und steilen Ränge genannt wird, wird mit fast 50.000 Fans die Tribünen für Boca schwingen lassen. Sie selbst sagen jedoch, sie lassen die Bombonera schlagen wie ein Herz. Gegnerische Mannschaften berichten, sogar der Rasen des Spielfelds bebe vor Fanatismus der Anhänger. Auswärtsfans sind in der Liga nicht erlaubt. Argentiniens Staatschef Mauricio Macri, neben seiner politischen Karriere auch ehemals Präsident von Boca, hatte jedoch die Idee, dieses Verbot für das Finale aufzuheben. Die Vereinspräsidenten lehnten ab. Macri mischte sich danach erneut ein, allerdings nicht konstruktiv. Er nannte Rivers Trainer schlicht einen "Fettarsch".
Anhänger hat Boca im ganzen Land und darüber hinaus. Auch ohne Ticket kommen die Fans zum Stadion. Sie sehen dort Bodenplatten mit Fußabdrücken von Starspielern wie Juan Riquelme, manche mit ihren Gesichtern an einer Tribünenrückwand. "Dieses Spiel ist das wichtigste aller Zeiten", sagt Ramón, 55 Jahre alt, mit funkelnden braunen Augen und voller Überzeugung. Aus seiner Heimatstadt Concordia ist er mit Frau und Tochter aus der Provinz Entre Ríos zur Bombonera gefahren, etwa fünf Stunden im Auto. Nun hält er seine blau-gelbe Fahne an der schwarzen Stange stolz über seinen Kopf und lässt sich von seiner Frau Patricia fotografieren. Ein historischer Moment. "Meinem Vater war Fußball egal als ich klein war, aber mein Onkel hat mich zum hincha von Boca gemacht", erzählt Ramón.
Die Angestellten in den zahlreichen Fanshops um das Stadion herum sagen, wegen der Partie sei ihr Umsatz so hoch wie lange nicht, trotz der Wirtschaftskrise und Inflation, die Argentinien derzeit strangulieren. Einheimische würden vor allem für ihre Einkommensverhältnisse sündhaft teure Trikots und T-Shirts kaufen. Brasilianer und andere Ausländer stürzten sich auf den Finalschal als Andenken.
Nicht nur die Fans sind außer sich, auch die Medien: Das Fußballportal "Olé" verkündete 24 Stunden vor Anpfiff stolz, seine Journalisten würden vor dem historischen Finale nun nicht mehr schlafen. "La Nación" zählt für sie die Sekunden bis zum Anpfiff herunter und hat die Partie bereits einhundert Mal simuliert; inklusive Videoschiedsrichter, der erstmals zum Einsatz kommt. Das Ergebnis: leichte Vorteile für Boca. Das Mathematikinstitut der Universität von Buenos Aires sieht das ähnlich. Der Grund für Bocas Vorteile ist die torgefährlichere Offensive bei Heimspielen.
Zwei Häuser neben dem Chorizo-Grill beobachtet eine Familie von ihrem Balkon aus die Szenerie: Da lassen sich Menschen mit einer Tangotänzerin vor dem großen Vereinswappen fotografieren. Auch lebensgroße Statuen von Lionel Messi, Diego Maradona, Carlos Tévez und sogar Ché Guevara müssen herhalten. Jedes Mal, wenn jemand im River-Trikot auftaucht, formt sich neugierig eine Menschentraube. Die beiden Jungs gucken von oben ganz routiniert herunter. Vor ihnen am Balkongitter hängt eine blau-gelbe Fahne, in deren Mitte kopfüber ein glänzend weißes Gummihuhn mit ausgekreuztem Auge. Gallinas, das heißt "Hühner". So nennen sich die gegnerischen Fans von River selbst.
Quelle: ntv.de