Deniz Undav führt Dortmund vorDer BVB verzweifelt an eigener Dummheit
Stephan Uersfeld
In elf Bundesliga-Spielen kassiert der BVB bisher nur eine Niederlage, doch eine mysteriöse Serie von späten Punktverlusten raubt dem Team jede Chance. Der Frust nimmt zu. Die Saison nimmt ihren üblichen Lauf. "Scheiße", findet das Angreifer Maxi Beier. Er trifft dabei die Mehrheitsmeinung.
Maximilian Beier hatte die Schnauze voll. "Es ist scheiße", sagte der Dortmunder Offensivspieler nach dem 3:3 (2:0) seines BVB gegen den VfB Stuttgart. "Du machst in der 90. das Tor und kassierst in der 90. den Ausgleich. Die Stimmung ist gerade am Boden." Bestätigt wurde er von dem Schweigen der Südtribüne, vereinzelten Pfiffen im Westfalenstadion und den "Scheiß BVB"-Gesängen der mitgereisten Stuttgarter, denen das restliche Stadion nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Es schwieg.
Der Frust nach der Gala von Deniz Undav saß tief. "Die Zuschauer haben ein wirklich gutes Spiel gesehen. Es war Spektakel, aber was bringt mir Spektakel, wenn wir wieder nur einen Punkt haben?", fragte Trainer Niko Kovac und niemand hatte darauf eine Antwort. Bei Borussia Dortmund hat Lebensfreude momentan wenig Platz. Nicht auf dem Spielfeld und daneben auch immer seltener.
Neun Punkte Rückstand auf den FC Bayern
Nach dem nächsten Last-Minute-Punktverlust bewegt sich der stets wankende Pottgigant in einer sechsköpfigen Spitzengruppe, die sich nicht mehr für den enteilten Rekordmeister FC Bayern interessiert, sondern auf die weiteren Plätze für die europäischen Plätze schielt.
Der BVB hat dabei mit 22 Punkten nach einem Drittel der Saison bereits neun Punkte Rückstand auf die Bayern. Sechs dieser Punkte verschenkten die Borussen dabei in der Nachspielzeit. Beim FC St. Pauli, beim HSV und nun gegen den VfB Stuttgart war eine Führung in der 90. Minute nicht genug für einen Sieg. Dazu kommt ein weiterer Einbruch gegen Juventus Turin in der Champions League.
Wenn Bayer Leverkusen sich die Meisterschaft 2024 auch aufgrund der zahlreichen späten Treffer gesichert hatte, so nutzt der BVB die Nachspielzeit in dieser Saison, um sich erneut in die traditionelle Herbst- oder Winterdepression zu stürzen.
Ein Klassiker in der ehemaligen Bierhauptstadt der Welt, in der sich am heutigen Sonntag mit der anstehenden und in Teilen der Anhängerschaft umstrittenen Wahl von Hans-Joachim Watzke zum Präsidenten des Klubs neue dunkle Wolken über den Verein legen können. Sportlich verzweifeln sie an ihrer eigenen Unfähigkeit, einen Sieg auch ab der 90. Minute zu verteidigen. Sie stellen sich einfach zu dumm an.
Adeyemis herrlicher Lauf
Dabei war die Welt in dieser 90. Minute noch in Ordnung. Karim Adeyemi war einmal über das Spielfeld gerannt, um den Ärger der vergangenen Wochen abzuschütteln. Als er sich den Ball von Serhou Guirassy beim Stand von 2:2 in der letzten Minute der regulären Spielzeit schnappte, war es ihm egal, wer ihn verfolgte, wer ihn stoppen wollte.
Adeyemi lief einfach immer weiter. Ein Stuttgarter sprang ihm mit einem Hechtsprung hinterher und griff in den Rasen. Adeyemi bediente Beier, der legte wieder auf Adeyemi ab und es stand 3:2 für den BVB. Der Nationalspieler hatte zuletzt mit einer mit Schlagring und Taser gefüllten Mystery Box und einer sich anschließenden Geldstrafe von 450.000 Euro eine der wilderen Geschichten der vergangenen Jahre geschrieben. Eine, die wohl noch lange nicht restlos aufgeklärt ist und eine, die dem 23-Jährigen in den kommenden Wochen noch einiges an Erklärungen abringen wird.
Das aber war in der 90. Minute erst einmal egal. Da sprang Adeyemi auf die Werbebande und ließ sich feiern. Das Westfalenstadion schrie sich kurz in einen Rausch. Vergessen die spielerisch erneut schwache Leistung, vergessen die grandiosen Tore von Deniz Undav, der das Dortmunder 2:0 zur Pause im Alleingang egalisiert hatte.
Strafraumschleicher Undav
Undav war dabei durch den Strafraum geschlichen, hatte sich in Positionen gebracht, die so harmlos wirkten, dass die Dortmunder ihm bereitwillig dabei zuschauten, wie er sich drehte, seinen Körper reinstellte und den Ball immer wieder in Richtung Tor brachte, egal, wohin sein Blick auch ging. Bei seinem ersten Treffer war Emre Can ein begeisterter Zuschauer in der ersten Reihe, beim 2:2 hob Jobe Bellingham das Abseits auf.
All das war vergessen. Aber Undav hatte darauf keine Lust. Noch einmal schlich er im Strafraum umher, schob, sich in Richtung Tor drehend, den Ball erst durch die Beine der deutschen WM-Hoffnung Nico Schlotterbeck und am Dortmunder Torhüter Gregor Kobel vorbei zum 3:3 ins Tor. Wenig später scrollte er durch sein Handy, auf der Suche nach einer Nachricht von Bundestrainer Julian Nagelsmann. Der hatte ihn zuletzt nicht nominiert und nun eine neue Denksportaufgabe mit auf den Weg bekommen.
Wie Undav die Dortmunder abkochte
Undav strahlte auf dem Platz und in den Katakomben. "Ich habe keine Worte dafür. Gegen Dortmund drei Tore zu machen, passiert nicht jede Woche", sagte er bei Sky. "Es war wichtig, nach der ersten Halbzeit das erste Tor zu machen. Nach dem 1:2 wussten wir, das Spiel wird offen sein. Wir sind dreimal zurückgekommen, besser hätte es nicht laufen können. Am Ende waren die Dortmunder schon am Jubeln und dann mach' ich das 3:3."
Dann zählte er erst einmal auf. Er erklärte, wie beim ersten Tor Emre Can abgekocht hatte ("Der guckt nur hoch"), beim zweiten Tor einfach spekuliert habe und dann eben beim dritten Tor, als die Dortmunder schon gefeiert hatten, alles richtig gemacht habe. Der 29-Jährige war ein zutiefst zufriedener Mensch. Er sagte über das 3:3: "Weltklasse, wie ich meinen Körper reinstelle und durch die Beine abschließe, muss ich sagen." Mussten auch andere sagen und so scrollte Undav weiter auf der Suche nach Nachrichten von Nagelsmann. Dabei grinste er.
Das Schweigen gegen die Populisten
Danach war den Dortmundern nicht zumute. "Nach dem 2:0 zur Halbzeit müssen wir es nach Hause bringen", schimpfte BVB-Kapitän Can, der mit einem von Undav an Schlotterbeck verursachten Elfmeter in der 34. Minute das 1:0 erzielt hatte. "Dann kommen die ran, machen das 2:2. Wir machen noch sehr spät das 3:2 und dann kassieren wir noch ein Tor im Gegenzug. Das darf uns niemals passieren. Wir müssen insgesamt besser verteidigen." Sonst gab er sich einigermaßen hilflos. Er wisse nicht, warum man immer wieder so einbreche. Vielleicht liege es an der zu passiven Verteidigung.
Ein auf stumm gestelltes Fußballstadion hat ein Grundrauschen. Es ergibt sich über die Geschichten, die ein Spiel erzählt. Raunen, Erleichterung und Empörung verstärken dieses Rauschen. Unmut und Begeisterung brechen sich gedämpft Bahn. Das Rauschen gleicht dem Surren eines entfernten Bienenvolkes, das seinem Alltag nachgeht. Wenn alle schweigen, bleibt dieses Rauschen, das in Dortmund das 3:3 umklammerte.
In den ersten zwölf Minuten des Spiels hatten die Anhänger beider Seiten gegen geplante schärfere Sicherheitsmaßnahmen der Politik protestiert. Indem sie sich den Mund verboten, raubten sie auch in Dortmund dem Spiel die Luft. Irgendwo summte das Bienenvolk, doch dafür kommt niemand in ein Stadion.
BVB protestiert gegen Fußball
Das Erlebnis Fußball definiert sich aus dem Zusammenspiel des Lärms und der Gesänge von den Tribünen, aus der Dynamik des Spiels auf dem Feld und den kollektiven Zusammenbrüchen und Siegen, die dort errungen werden. Eskapismus hinter verschlossenen Türen. "Soll das die Zukunft des Fußballs sein? Vereine & Verbände: Schützt Eure Kurven vor Populisten" fragten die Dortmunder Fans in den zwölf Minuten des Schweigens von der Tribüne. Als die Uhr umsprang, dröhnten die Ohren der Zuschauer im Westfalenstadion. So laut und so brachial ging es zu.
Der BVB protestierte dann noch ein wenig länger gegen den Fußball, fand sich gegen die hoch angreifenden Stuttgarter kaum in der Lage, geordnete Aktionen in die Hälfte des VfB zu tragen. Die Versuche, das Pressing zu überspielen, misslangen mit den nicht einmal mehr als lange Pässe getarnten Befreiungsschlägen. Das Spiel kippte langsam, als der BVB ab der 27. Minute mehr Gefahr in Richtung gegnerischer Strafraum brachte und bald darauf erst mit 1:0 und dann durch Beier mit 2:0 in Führung ging.
In der zweiten Halbzeit begann das, was Beier später als "scheiße" bezeichnen würde, und als das Spiel von Schiedsrichter Benjamin Brand beendete wurde, verfiel zumindest der Dortmunder Teil der Anhänger erneut in das Schweigen der Anfangsphase. Denn eins war ja auch klar, die Zukunft des BVB ist mal wieder in Gefahr, aber auch nicht zu sehr. Das ist, wie die seit 2012 immer wieder aufkommende, von aktionistischen Politikern ausgelöste Sicherheitsdebatte, eine der Konstanten des deutschen Fußballs.
Mit den kommenden Spielen gegen Villarreal in der Champions League und dann zweimal Bayer Leverkusen (auswärts in der Liga und zu Hause im Pokal) haben die nun seit drei Spielen sieglosen Borussen genau drei Spiele Zeit. Sie müssen eine Antwort auf die Frage finden, was sie von dieser Saison eigentlich wollen. Das bleibt weiterhin unklar. Vorerst aber haben sie die Schnauze voll - und Deniz Undav gute Laune.