Fußball

Reese, Internet-Star, Drama Der "gigantische" Pokal-Abend von Hertha BSC

Wieder Liebe bei der Hertha.

Wieder Liebe bei der Hertha.

(Foto: picture alliance / DeFodi Images)

Sechs Tore in der regulären Spielzeit, die Entscheidung fällt erst im Elfmeterschießen: Hertha BSC und der HSV liefern sich ein denkwürdiges Duell im DFB-Pokal-Achtelfinale. Am Ende überragt vor allem einer: Fabian Reese.

Wie schnell sich die Welt doch wandeln kann: Noch vor wenigen Wochen hätten wohl die wenigsten gedacht, einmal bei Hertha BSC eine Liebeserklärung an den Fußball zu finden. Nach (grob geschätzten) 374 Millionen Negativschlagzeilen war der Berliner Fußball-Klub im vergangenen Sommer aus der Bundesliga abgestiegen. Der Kader bröckelte auseinander, in den Finanzen klaffte ein gewaltiges Loch. Im schlimmsten Fall drohte sogar das Ende des Profifußalls im Berliner Westend.

Umso erstaunlicher ist das, was sich am Mittwochabend im Berliner Olympiastadion ereignete. In einem wilden Achtelfinalspiel im DFB-Pokal schlugen die Berliner den HSV mit 3:3 (2:2, 1:2) n.V., 5:3 i.E. Und in den Katakomben stand anschließend Herthas Fabian Reese und konnte gar nicht mehr aufhören zu schwärmen. Der 26-Jährige verwandelte den entscheidenden Elfer und war wohl auch sonst der überragende Protagonist eines Pokalabends.

"Ich glaube, dafür lieben wir den Fußball", sagte Reese, der den Spielball nicht mehr aus den Augen ließ. "Dafür arbeiten wir jeden Tag, dafür lebt man auch ein Stück weit - für diese Emotionen, an solchen Orten, in solchen Momenten da sein und das erleben zu dürfen." Er werde seinen Kindern eines Tages noch davon erzählen. Es sei "ein gigantischer Abend" gewesen. "Und ich glaube, heute Abend ist etwas ganz Besonderes auch im Team entstanden."

HSV kontert per Doppelschlag

Die Liebeserklärung war das Ergebnis eines Fußballabends, wie ihn nur ein K.-o.-Wettbewerb produzieren kann. Flutlicht und ein fast volles Haus: 58.946 Menschen auf den Rängen des Berliner Olympiastadions sahen eine mitreißende Partie, auch weil sie bei Temperaturen um den Nullpunkt den Akteuren auf dem Platz kräftig einheizten. Der HSV steuerte zu einer eindrucksvollen Geräuschkulisse mehr als 20.000 mitgereiste Fans bei.

Hertha BSC - Hamburger SV 3:3 (2:2, 1:2) n.V., 5:3 i.E.

Tore: 1:0 Reese (21.), 1:1 Pherai (31.), 1:2 Benes (43.), 2:2 Reese (90.), 2:3 Königsdörffer (102.), 3:3 Kenny (120.)
Elfmeterschießen: 1:0 Prevljak, 1:1 Benes, 2:1 Klemens, 2:2 Muheim, 3:2 El-Jindaoui, 3:3 Glatzel, 4:3 Kenny, Ernst (Berlin) hält gegen Königsdörffer, 5:3 Reese
Berlin: Ernst - Kenny, Gechter (23. Leistner), Dardai, Karbownik - Klemens, Zeefuik (60. Hussein), Niederlechner (80. El-Jindaoui) - Scherhant (46. Christensen), Tabakovic (61. Prevljak), Reese. - Trainer: Dardai
Hamburg: Raab - Mikelbrencis (97. Oliveira), Hadzikadunic, Schonlau (61. Ramos), Muheim - Meffert - Pherai (97. Krahn), Benes - Jatta (72. Königsdörffer), Nemeth (72. Glatzel), Öztunali. - Trainer: Walter
Schiedsrichter: Sascha Stegemann (Niederkassel)
Zuschauer: 58.946

Auf dem Rasen spielte sich ein wildes Spektakel ab. Der HSV hatte zu Beginn zwar viel Ballbesitz, strahlte aber wenig Gefahr aus und hatte vor allem ein Problem: Dass Herthas Reese laut Coach Dardai seine Seite ständig "auseinandernimmt". In der 21. Minute tankte er sich durch, sein Pass zu Florian Niederlechner kam irgendwie zu ihm zurück und er schob den Ball nach einem Doppelpass mit dem HSV-Pfosten ins Tor ein.

Doch noch vor der Pause schlug der das Team von Tim Walter zurück - und das gleich doppelt: erst sehr sehenswert per Fernschuss von Immanuël Pherai (31.) und dann weniger sehenswert dank László Bénes (43.). In der zweiten Hälfte mühten sich die Berliner, trafen das Tor aber nicht. Bis zum Ende der regulären Spielzeit: In letzter Sekunde glich natürlich Reese (90.) aus.

Doch das war erst der erste Teil des Dramas: In der Verlängerung ging erneut der HSV wieder sehenswert in Führung (102.). In der 120. Minute schlug dann wieder der Mann zu, den Kapitän Toni Leistner als die Steigerung des Wahnsinns bezeichnete: Fabian Reese. Wieder sind es die letzten Sekunden der Spielzeit. Diesmal fand er Jonjoe Kenny, der bis zu dieser Saison ein ewiger Absteiger war, der aber plötzlich nicht nur den Ball über die Linie drückte, sondern zudem ein Baustein einer erstaunlichen Berliner Mannschaft ist. Der Pokalfight gipfelte damit im Elfmeterschießen.

Leistner ist "extrem stolz"

Wohl selbst die kühnsten Optimisten ahnten vor wenigen Monaten nicht, dass es einmal so weit kommen würde. Noch Mitte August hatten die Hamburger die Hertha in der Liga böse vermöbelt. Trainer Pal Dardai bezeichnete die 0:3-Auswärtsniederlage damals als "Klassenunterschied", sein Team war in allen Belangen unterlegen. Davon ist dreieinhalb Monate später jedoch nichts mehr zu spüren. Es sei der Beweis, "dass wir uns extrem weiterentwickelt haben", sagte Kapitän Leistner. "Das macht mich extrem stolz."

Schließlich stand am Mittwochabend eine andere Mannschaft auf dem Rasen. Keine, die nach zahlreichen Abgängen stark verunsichert war, sondern eine, die nun seit sieben Spielen ungeschlagen ist. Und vor allem eine, die mittlerweile viele kleine Heldengeschichten produziert. Sei es Haris Tabakovic, von den Fans liebevoll "Fluppe" getauft, der noch bis vor kurzem Tore wie am Fließband erzielte. Der 20-jährige Torwart Tjark Ernst, der im Elfmeterschießen einen Schuss parierte. Oder eben Niederlechner, der lange gar nicht und inzwischen sehr häufig trifft. Es sind diese kleinen Geschichten, die am Ende dem Fußball einen Sinn geben. Die zeigen, dass etwas entsteht.

Dazu gesellte sich nun das neuste Heldenepos: Nader El-Jindaoui, der 27-jährige Internetstar, der endlich für die Profis debütierte. Auch nach dem Spiel hatte er das "noch nicht richtig realisiert", sagte er. "Ich habe mein ganzes Leben lang dafür gekämpft und heute war es so weit", erklärte er. "Und dass wir eine Runde weitergekommen sind, war die Kirsche auf der Torte. Es war einfach ein unbeschreibliches Gefühl." Im Elfmeterschießen verwandelt er seinen Schuss. Vor dem Elfmeterschießen fand seine sehenswerte Spielverlagerung Reese, der im Zusammenspiel mit Kenny den Rest erledigte.

"Wenn man mich googelt, steht da 'Fußballer'"

El-Jindaoui wechselte im Sommer 2022 vom Berliner AK zur zweiten Mannschaft von Hertha. Der Transfer sorgte für viel Aufsehen, mehr als 1,7 Millionen Menschen folgen ihm auf Youtube, wo er aus seinem Alltag erzählt. "Auch wenn manche gerne sagen, ich bin Influencer: Ich bin Fußballer und teile ein bisschen mein Leben", sagte er nun. "Wenn man mich googelt, steht da 'Fußballer' und so fühle ich mich auch. Und ich hoffe, ich konnte es heute unter Beweis stellen."

Das hatte er getan und einen neuen Ruf als Orakel begründet. Noch am Vorabend hatte er in den sozialen Medien eine kleine Geschichte mit seinen Followern geteilt. Der Familienmensch zeigte seine Frau, sein Kind war bereits im Bett. "Jetzt Abendessen und morgen vielleicht DFB-Pokal-Spiel", schrieb er: "Inshallah, bin ich im Kader und wir kommen eine Runde weiter." Das passierte. Der von Präsident Kay Bernstein, der auf der Tribüne kauernd das Spiel verfolgte, ausgerufene Berliner Weg hatte schon wieder einen neuen Pfad freigeschlagen.

All diese Geschichten schienen noch vor Wochen kaum vorstellbar. In der Liga belegt die Hertha nach einem schlechten Saisonstart mittlerweile Platz acht. Die aktuelle Spielzeit soll ein Übergangsjahr sein, nach dem großen Kaderumbruch. Sie gibt auch einen Fingerzeig darauf, wer in den kommenden Jahren Stützen sein könnten. Vorneweg natürlich Reese, dessen Erfolgsrezept "harte Arbeit, gepaart mit viel Vertrauen vom Verein, ein gewisser Flow, ein Quäntchen Glück und Spaß bei der Arbeit" ist. Nach dem Achtelfinal-Erfolg kürte ihn sein Kapitän schon zum "derzeit besten Spieler der Zweiten Liga".

Wird Reese jetzt sogar Nationalspieler?

"Wir können ihn immer einsetzen: seine Wucht, seine Schnelligkeit, seine Assists", sagte Leistner, dem in Berlin aufgrund seiner Vergangenheit bei Union Berlin erst Feindseligkeit entgegenschlug und der mit jeder weiteren Narbe im Gesicht mehr am anderen Ende der Stadt ankommen. Auch gegen den HSV war ihm das gelungen. Erneut. Im Ligaspiel gegen die Rauten hatte er sich einen Nasenbeinbruch zugezogen, diesmal reichte es für eine Platzwunde.

So viele Heldengeschichten und ganz oben strahlte Reese, der ehemalige Kieler, der das Bild der neuen Hertha verkörpert. Kann sich alles ändern. Aber nicht in dieser Nacht. Pokal eben. Und überhaupt: Der Ungar an der Seitenlinie, der ewige Pal Dardai, der nichts mehr auf eine sportliche Figur gibt, aber in seiner dritten Amtszeit weiter alles für Hertha raushaut, wollte den Sieg nicht als Heldenshow begreifen: "Man könnte sagen, es war die Fabian-Show, ist es aber nicht", stellte er klar. "Wir haben so viel investiert und wurden belohnt. Das war ein geiler Abend."

Und auch Reese hat wohl noch Arbeit vor sich. Er solle sich mehr in der Defensive schmeißen, noch fokussierter sein. "Ich werde es so lange mit ihm üben, bis er zum Schluss Nationalspieler ist", verspricht Dardai. Doch bis dahin wird es wohl noch dauern. Obwohl, an diesem Abend im Olympiastadion schien alle möglich, und das war mehr als bei Hertha noch im August jemand zu träumen gewagt hätte. Das war Fußball. Für diesen kurzen Moment war der Zweitligist wieder der erfolgreichste Klub der Stadt.

Quelle: ntv.de

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