Tore für Bergamo, Tote zu Hause Die dunklen Sternstunden des Fußballstars
11.03.2022, 13:51 Uhr
Ruslan Malinovskyi ist dieser Tage ein besonderer Fußballprofi, unfreiwillig: Der ukrainische Nationalspieler steht doppelt unter Beobachtung. Sportlich und wegen der schlimmen Situation in seiner Heimat. Der 28-Jährige funktioniert bemerkenswert. An der Seite seines russischen Freundes.
Als Ruslan Malinovskyi vor dem Europa-League-Spiel gegen Bayer Leverkusen ins Bett geht, steht einige Hundert Kilometer östlich fest, dass in dieser Nacht in seiner Heimatstadt wohl nur wenige Menschen ein Auge zugemacht haben. "Oh, das ist eine heiße Nacht", sagte Serhij Suchomlyn in einem Video. Suchomlyn ist Bürgermeister von Schytomyr, Malinovsky, der längst in Italien für Atalanta Bergamo spielt, wurde dort geboren. Ab Mittwochabend hätten russische Kampfjets die Stadt bombardiert, sagte Suchomlyn. Unter anderem seien zwei Krankenhäuser in Schytomyr getroffen worden, darunter eine Kinderklinik. "Russland begreift, dass es strategisch verliert, aber wir müssen durchhalten."
Malinovskyi musste sich derweil in Bergamo auch auf den Fußball konzentrieren. Gegen Bayer Leverkusen lieferte der 28-Jährige dann am Donnerstag eine Galavorstellung, er traf einmal selbst, zwei Treffer bereitete er vor. Dass die Italiener den Bundesligisten nur mit einem 3:2 nach Hause schickte, ist für Leverkusen schmeichelhaft. Auf Twitter widmete Malinovskyi seine außergewöhnliche Leistung "allen Opfern des Krieges in der Ukraine". Die Familie des Mittelfeldspielers "ist immer noch in der Ukraine und lebt in der Nähe von Kiew, aber nicht in einer großen Stadt, sondern an einem etwas sichereren Ort", hatte Roksana Malinovska, die Ehefrau des Profis, vergangene Woche verraten. "Meine Familie ist in der Nähe des Schwarzen Meeres und der Krim, meine Großmutter und meine Freunde sind dort, ich mache mir große Sorgen um sie." Mitspieler Marten De Roon sagte in der Pressekonferenz vor dem Europa-League-Achtelfinale, "wir, die wir Familie in anderen Ländern haben, können uns das alles gar nicht vorstellen." Bereits Anfang März hatte es die ersten Luftangriffe auf die 200.000-Einwohner-Stadt Schytomyr gegeben, bei denen Menschen ums Leben gekommen waren, berichteten lokale Behörden. Die Angaben zu den Kampfhandlungen lassen sich von unabhängiger Seite allerdings schwer überprüfen.
"Erschüttert mich mehr als Covid"
Atalantas Trainer Gian Piero Gasperini zeigte sich nach dem Spiel bei Sky Sport Italia beeindruckt und emotional berührt, was sein Stürmer in dieser Situation leistet: "Es ist rührend, was er tut, was er lebt, wie er mit seiner Frau und dem ganzen Team umgeht. Wir verbringen viel Zeit damit, zu verfolgen, was vor sich geht. Mich persönlich hat das mehr erschüttert als Covid", sagte Gasperini. "Er hat Verwandte, er hat Freunde in der Ukraine."
In Bergamo hatte das Virus 2020 schwer gewütet. Der deutsche Nationalspieler Robin Gosens, der bis zum Januar für Atalanta Bergamo zusammen mit Malinovskyi gespielt hatte, hatte im März 2020 im ZDF-"Sportstudio" berichtet, die Situation in Bergamo sei "an Traurigkeit nicht zu überbieten, was bei uns gerade passiert." Die Erinnerung lässt eine Einordnung zu, wie Gasperini die Tage des Krieges wahrnimmt.
In Bergamo spielt der Ukrainer Malinovskyi zusammen mit dem Russen Aleksey Miranchuk Seite an Seite, beide sind Freunde. Giovanni Sartori, Sportdirektor Atalantas, gab Anfang März, wenige Tage nach dem Beginn des Krieges, einen Einblick in die Beziehung beider Profis: "Sie leben mit großem Respekt füreinander, auch wenn sie unterschiedliche Charaktere haben. Ein Ukrainer und ein Russe, die sich gegenseitig umarmen und zusammen spielen. In unserer Umkleidekabine gibt es ein Beispiel dafür, dass diese Menschen in Frieden zusammenleben können." Gasperini erklärte, "wir stehen auch Miranchuk sehr nahe. Es ist außergewöhnlich, diese Freundschaft, die sie haben." Der russische Stürmer "schämt sich fast für diese Situation und er verdient genauso viel Respekt, denn Menschen sind wichtiger als die Flaggen, die sie repräsentieren".
Mitspieler Matteo Pessina sagte: "Neulich, als der Wahnsinn des Krieges begann, umarmten sich die beiden in Zingonia. Und wir haben uns ihnen angeschlossen und werden dies auch weiterhin in dieser schwierigen Zeit tun, die uns als eine große Familie zusammenführt." Der Fußball, so schrieb Pessina auf Instagram, "vereint, was die menschliche Torheit trennen will".
"Ich bin stolz auf meinen Freund"
Schon in der vorangegangenen Runde hatte Malinovskyi ein doppeltes Zeichen gesetzt: Am letzten Donnerstag im Februar, nur wenige Stunden nach dem Beginn des Überfalls Russland auf die Ukraine, gelang dem Nationalspieler gegen Olympiakos Piräus ein sehenswerter Doppelpack. Den feierte er mit der Botschaft "No War in Ukraine" (Kein Krieg in der Ukraine) auf dem Shirt unter dem Trikot. Für Malinovskyi sei es schwer gewesen, "gegen Olympiakos auf dem Platz zu stehen", sagte seine Frau, "aber wenn er spielt, will er die Ukrainer auch mit kleinen Gesten inspirieren, mit seinem Doppelpack hat er ihnen in einem schwierigen Moment ein Lächeln geschenkt."
Miranchuk hatte wenige Tage nach dem Doppelpack seines Freundes auch getroffen, beim 4:0 gegen Sampdoria Genua. Doch unmittelbar nach dem Tor hob der Russe die Hände, um zu signalisieren, dass er nicht feiern würde, und wurde dann schnell von seinen Teamkollegen umringt. "Die letzten Tage waren hart", sagte De Roon. "Ruslan macht eine schwere Zeit durch, weil seine Familie und seine Stadt in Schwierigkeiten sind. ... Aber sie (Malinovskyi und Miranchuk) reden immer miteinander. Zwischen ihnen herrscht nichts als Freundschaft."
Seit dem Spiel am 24. Februar hat sich die Situation in der Ukraine dramatisch verschlimmert, viele Hundert Zivilisten sind nach Angaben der Vereinten Nationen inzwischen getötet worden, Millionen Menschen sind auf der Flucht, mehrere Großstädte melden dauernde Angriffe. Zahlreiche ukrainische Sportler sind inzwischen in den Krieg gezogen: Biathlon-Weltmeister, Box-Champions, zwei ukrainische Fußball-Profis sind schon ums Leben gekommen. Auch der Tennisprofi Sergiy Stakhovsky kündigte an, notfalls mit der Waffe für die Ukraine zu kämpfen. "Ich bin wirklich stolz auf meinen Freund. Er ist ein großartiger Mensch, einer der besten Tennisspieler und ein echter Patriot unserer Ukraine", sagte Malinovskyi.
Der Fußballer selbst huldigte via Twitter Yuriy Vernydub. Der hatte als Trainer von Sheriff Tiraspol im Herbst noch Real Madrid bezwungen, inzwischen hat er sich auch der Trainer zum Kriegsdienst gemeldet. Malinovskyi unterstützt die Menschen in seiner Heimat finanziell und indem er über seine Kanäle Öffentlichkeit herstellt. Aber er spielt weiter.
Quelle: ntv.de