
Freude, fast immer nur Freude - so sieht die Stimmung in Nottingham aus.
(Foto: Action Images via Reuters)
Ein Underdog lehrt der Premier League das Fürchten: Nottingham Forest steht nahe der Spitze, beschert dem FC Liverpool die bislang einzige Saisonpleite und schafft auch im Rückspiel ein Remis. Dabei war der Klub lange in den Tiefen der 2. und 3. Liga verschwunden. Ein wundersamer Wandel.
Gerade einmal 45 Minuten dauert es, mit dem Auto vom King Power Stadium in Leicester zum City Ground in Nottingham zu fahren. In dem einen Stadion gab es in der Saison 2015/16 die Fußball-Sensation, die sich nun ein paar Kilometer nördlich wiederholen könnte. Leicester City war der letzte Meister der englischen Premier League, der als Underdog so richtig überraschte. Als Jamie Vardy es in die Nationalmannschaft schaffte, der Stürmer sogar Englands Fußballer des Jahres wurde. Als Robert Huth, den man in Deutschland schon wieder vergessen hatte, seinen zweiten Verteidiger-Frühling im Spätherbst der Karriere erlebte und nur dreimal 90 Minuten wegen Sperren verpasste. Als Trainer Claudio Ranieri seinen vielen Pokalsiegen auch einen Meistertitel hinzufügte.
Seitdem stand einmal der FC Chelsea, einmal der FC Liverpool und satte sechsmal Manchester City ganz oben in der Tabelle. Und ja, auch diesmal sieht Vieles nach dem FC Liverpool und damit einem alten Bekannten aus. Das Team, dem viele nach dem Abschied von Kult-Trainer Jürgen Klopp eine Zäsur prophezeit hatten, entschwebt mit dessen Nachfolger Arne Slot in neue Höhen. Erst ein Spiel verlor es in dieser Saison - gegen den Underdog aus Nottingham. Hinzu kommen fünf Unentschieden - auch hier bescherte ihnen eins Nottingham Forest.
1:1 lautete der Endstand am Dienstagabend im City Ground, Liverpool hatte sich zum Remis gegen Forest mit Trainer Nuno Espirito Santo kämpfen müssen. Schon in der achten Minute hatte Chris Wood den Underdog in Führung gebracht, ehe Diogo Jota nur eine Minute nach seiner Einwechslung ausgleichen konnte (66.). Forest-Torhüter Matz Sels war im Anschluss stets zur Stelle, mit Glanzparaden rettete er seinem Team den Punkt. Eben jenem Team, das jetzt - zumindest bis der FC Arsenal seine Partie gegen Tottenham Hotspur absolviert hat - der direkte Verfolger der Reds in der Tabelle ist.
Champions League - oder mehr?
Nottingham Forest? In der Tat, diesem Klub hatten nicht einmal die eigenen Fans einen derartigen Höhenflug zugetraut. Sie hatten sich im Zittern und Bangen eingerichtet, die Tricky Trees, wie sie wegen des Baumes im Wappen genannt werden, waren erst 21/22 wieder in die erste Liga aufgestiegen, hatte dann als 16. die Klasse gehalten. Gar als 17. der Vorsaison hatte Forest in der Vorsaison erst am letzten Spieltag gerade so den Abstieg verhindert - auch, weil die Ligaverantwortlichen den Klub mit einem Abzug von vier Punkten wegen eines Verstoßes gegen die Finanzregeln bestraft hatte. Und jetzt? Mittendrin im Konzert der ganz Großen.
Dabei hat sich gar nicht so viel geändert. Trainer ist seit Dezember 2023 der Portugiese Nuno Espirito Santo. Für den 50-Jährigen war die Aufgabe in Nottingham die Chance, sich doch noch einmal in der Premier League zu beweisen. Nach erfolgreichen Jahren bei den Wolverhampton Wanderers zwischen 2017 und 2021 war er zur Saison 2021/22 zu Tottenham Hotspurs gelotst worden - wurde da aber nach fünf Pleiten in nur zehn Ligaspielen schon wieder entlassen. Er zog weiter nach Saudi-Arabien, wurde Meister mit Al-Ittihad und wenige Monate später erneut entlassen. Mehr als ein Jahr war Espirito Santo ohne Job, ehe er in Nottingham übernahm.
Letzter Erfolg liegt mehr als 45 Jahre zurück
Nach einem zähen Beginn ist der 50-Jährige nun mittendrin im Fußball-Märchen. Klar, eine Trophäensammlung hat Nottingham auch. Allerdings stammen die Pokale vor allem aus den 1970er-Jahren. Englischer Meister 1977/78, zweimal in Folge Europapokal-der-Landesmeister-Sieger 1978/79 und 1979/80. Trainer Brian Clough blieb von 1975 bis 1993, 785 Spiele managte er - Pep Guardiola steht bei Manchester City aktuell bei 503 Partien. Doch die Forest-Erfolge liegen mehr als 45 Jahre zurück, dazwischen folgten Jahre in der 2. und sogar 3. Liga. Nun also wieder Premier League - und vermutlich sogar das internationale Geschäft in der kommenden Saison. Es klingt völlig verrückt, aber längst glauben Experten daran, nicht nur die größten Träumer unter den eigenen Fans.
Forest wird sich am Saisonende für die Champions League qualifizieren, so Ex-Profi Clinton Morrison im "Daily Football"-Podcast bei BBC Radio 5. Und er wagt sich sogar weiter vor: "Nottingham Forest hat definitiv Titelambitionen." Noch ruft in Nottingham niemand nach dem Titel, doch die Statistik spricht für die Champions League. 70-mal haben Teams bislang in den ersten 20 Spielen einer Saison 40 Punkte oder mehr eingesammelt - nur viermal reichte es am Saisonende nicht unter die Top Vier - so erwischte es unter anderem Leicester City in der Saison 2019/20. Doch das aktuelle Vorbild von Forest hatte in der Meistersaison vier Jahre zuvor andererseits nach 20 Spielen 40 Punkte auf dem Konto - am Ende gab es entfesselte Feiern.
Nottingham Forest ist also inzwischen mehr als nur ein Störfeuer für die Großen. Slot hatte vor dem zweiten Aufeinandertreffen der Klubs gesagt: "Wenn Forest dann bei uns ist, bei Arsenal, Chelsea und City und all den anderen, dann sind sie definitiv ein Team, das mit uns und den anderen Teams in Konkurrenz steht. Sie verdienen es, so behandelt zu werden, wenn man sich anschaut, wie sie spielen und wenn man sich ihre Ergebnisse anschaut."
Diese sprechen für sich. Sechs Liga-Spiele in Folge hatte Forest vor dem Duell mit Liverpool gewonnen, das Remis verhinderte die Einstellung der mehr als ein Jahrhundert währenden Bestmarke - die aus dem Jahr 1922 stammt. Zum ersten Mal seit fünf Liga-Spielen kassierte Forest ein Gegentor. Dass es bei diesem einen und damit beim Punktgewinn blieb, war in der Tat etwas glücklich. Sels hielt, was es zu halten gab und Espirito Santo sagte: "In der ersten Halbzeit waren wir gut organisiert und haben nicht zu viele Situationen zugelassen. In der zweiten Halbzeit war es wie Tischtennis, da wurde Liverpool stärker, und wenn sie Platz haben, sind sie mit ihrer Geschwindigkeit und ihrem Talent sehr gefährlich." Dennoch: "Ich bin sehr stolz auf die Mannschaft für die Art und Weise, wie sie gearbeitet hat und gelaufen ist, vor allem das Auf und Ab und die Sprints, um sich zu erholen und den Willen, anzugreifen."
Mehr Geld investiert als Liverpool
Maßgeblich zum Höhenflug trägt Innenverteidiger Nikola Milenkovic von der AC Florenz bei. Der 1,95 Meter große, kopfballstarke Profi hat die Defensive stabilisiert. Gegen Liverpool war es zudem sein Innenverteidiger-Kollege Murillo, der ein ums andere Mal den Kopf hinhielt. Nur 20 Tore haben die Tricky Trees bislang in 21 Spielen kassiert. Zum Vergleich: Manchester City, der abgestürzte Meister, hat schon 29 eingeschenkt bekommen. Und trotzdem widersetzt sich Forest dem "Guardian" zufolge vielen Datengrundlagen. Nur 39 Prozent Ballbesitz im Saisonverlauf, nur ein Drittel so viele Pässe ins letzte Drittel wie Arsenal. Nur 30 eigene Tore, Liverpool hat bereits 48, Arsenal 39 und auch City steht bei 38.
Nun bietet das Märchen von Nottingham Forest die Reminiszenz zur Sage von Robin Hood an, der in den Wäldern rund um Nottingham die Reichen bestohlen und es den Armen gegeben haben soll. Doch der Fußball-Klub ist mitnichten der Robin Hood der Liga, arm ist er nicht. Der Gesamtmarktwert des Teams beträgt laut transfermarkt.de 442 Millionen Euro. Das bedeutet das Mittelfeld in der Premier League, Aufsteiger Ipswich Town ist 2243,8 Millionen Euro wert, während Liverpool (967 Mio.) an der Milliarde kratzt, brechen Chelsea (1,02 Mrd.), Arsenal (1,15 Mrd.) und Man City (1,21 Mrd.) die Schallmauer.
Doch die Konkurrenz legte bereits den Finger in die Geld-Wunde: "Sie haben in den letzten drei Jahren mehr Geld ausgegeben als wir", sagte Liverpool-Coach Slot. Laut transfermarkt.de hat Forest seit dem Wiederaufstieg in die Premier League im Jahr 2022 mehr als 431 Millionen Euro ausgegeben, aber nur knapp 175 Millionen Euro eingenommen - macht ein Minus von 257 Millionen Euro. Liverpools Ausgaben betragen im selben Zeitraum etwa 359 Millionen Euro, auf der Haben-Seite stehen Einnahmen von gut 188 Millionen Euro - macht auch ein Minus, aber "nur" 171 Millionen Euro. Und so erklärte Slot: "Man weiß, dass man mit viel Geld gute Spieler bekommt, und dann braucht man einen Trainer, der das Beste aus ihnen herausholt. Und das macht Nuno im Moment großartig. Es ist immer noch eine unglaubliche Leistung, dass sie derzeit unter den ersten drei sind, aber wenn man sich ansieht, wie viel Geld sie ausgegeben haben, ist es keine große Überraschung, dass sie jetzt eine bessere Saison haben als vor zwei oder drei Jahren."
Das wollte Espirito Santo nicht auf sich und seinem Team sitzen lassen. "Ich betrachte den Spieler als Menschen und überlege, wie ich ihn verbessern kann. Wie kann ich dich verbessern? Geld spielt nicht Fußball, das machen Menschen. Das ist nicht mein Problem, wir kümmern uns nicht um den Preis der Dinge."
Gibt es Revanche gegen FC Bayern?
Ein Preis, zu dem er als Manager weniger maßgeblich beiträgt als der Eigentümer. Das ist Evangelos Marinakis. Der griechische Reeder und Unternehmer hat die Tricky Trees 2017 übernommen, schon seit 2010 besitzt er auch Anteile am Conference-League-Sieger Olympiakos Piräus. Der 57-Jährige ist kein unbeschriebenes Blatt, zuletzt war er von der griechischen Liga gesperrt worden, weil er in der Nähe eines Schiedsrichters auf den Boden gespuckt hatte. Von 2011 bis 2015 gab es in Griechenland Vorwürfe der Spielmanipulation und wegen eines aufsehenerregenden Drogenhandelfalls, er wurde für beides verklagt, aber nie verurteilt. Alle Verfahren wurden entweder eingestellt oder er wurde von den Vorwürfen freigesprochen.
Während Marinakis also durchaus umstritten ist, ist die Wertschätzung für Espirito Santo groß. Im Dezember wurde er in der Premier League zum Manager des Monats gewählt. Der Sieg und das Remis gegen Liverpool sind kein Einzelfall, auch die weiteren Großklubs Tottenham, Chelsea und Man United ließen Punkte liegen, 12 von 21 Spielen gewann Nottingham. Und wer weiß, vielleicht gibt es am Saisonende die rauschende Meisterparty, dafür müssten Liverpool und Arsenal aber noch mehrfach stolpern.
Der FC Bayern sollte sich aber schon einmal den Weg nach Nottingham anschauen. Nicht unrealistisch, dass es zum Duell in der kommenden Champions-League-Saison kommt. 29 Jahre ist es her, dass die beiden Teams schon einmal aufeinandertrafen: im März 1996 im Viertelfinale des UEFA-Pokals. Das Hinspiel im Münchner Olympiastadion gewann der FC Bayern knapp mit 2:1, drehte dann aber in Nottingham so richtig auf: 5:1 - der Einzug ins Halbfinale gegen den FC Barcelona, der Durchmarsch ins Finale - und letztlich der 2:0-Triumph gegen Girondins Bordeaux mit den Final-Torschützen Thomas Helmer und Mehmet Scholl.
Quelle: ntv.de