Stuttgart eskaliert, Bayer lacht Ein Bundesliga-Spiel wie eine Saloon-Klopperei
28.04.2024, 07:16 Uhr
Viel Feuer war drin, beim Duell Bayer Leverkusen gegen den VfB Stuttgart.
(Foto: IMAGO/RHR-Foto)
Bayer Leverkusen hat es wieder getan. Gegen den VfB Stuttgart droht abermals die erste Niederlage der Saison, doch in der 96. Minute schlägt DFB-Spieler Robert Andrich für den Meister zu. Um den Ausgleichstreffer gibt es Ärger.
Als die Cowboys des VfB Stuttgart am frühen Samstagabend den Saloon BayArena betraten, taten sie das nicht in bester Absicht. Die Abordnung aus Schwaben hatte zwei offene Rechnungen in der Satteltasche und den Plan, den Saloon, der seit Monaten die größte Partyzone des Landes ist, zu verwüsten. Die Stuttgarter wollten die ersten sein, die Bayer Leverkusen die noch immer blütenweiße Weste beschmutzen. Sie waren fest entschlossen. Zweimal waren sie in den vergangenen Monaten knapp dran gewesen, beide Mal hielt sich der neue Deutsche Meister schadlos. In der Fußball-Bundesliga gab es ein Remis, im DFB-Pokal eine Niederlage in der 90. Minute.
Beim dritten Duell waren sie noch näher dran, erst in der 90.+6. Minute schlug die letzte Patrone ein. Robert Andrich schoss durch das Dickicht vor ihm und traf. Es war eine Instinkthandlung, nichts in sich Gereiftes. Nichts Geplantes. Wenn man von dem Plan absieht, doch noch das Remis zu erzwingen und damit die monströse Serie von nun wettbewerbsübergreifend 46 Spielen zu retten. Was genau er tat, das wusste der DFB-Spieler tatsächlich nicht. Ob er die Augen offen und geschlossen hatte, auch das konnte er nicht mit Gewissheit sagen. Er hatte nur gehofft, durfte jubeln, hatte zum 2:2 (0:0) getroffen. Wieder hatten es sich Bayer und der VfB hart gegeben. Die Gastgeber hatten zum dritten Mal einen Rückstand gegen die Schwaben aufgeholt und konnten ihr Glück nicht fassen. Die Gäste sanken nieder, mit leeren Blicken - oder feuriger Wut in den Augen. Obwohl Bayer längst als Meister feststeht, was in Dauerschleife besungen worden war, und der VfB für die Champions League planen kann, gab es Emotionen und Szenen wie nach einem dramatischen Alles-oder-Nichts-Knockout-Spiel.
Tore: 0:1 Führich (47.), 0:2 Undav (57.), 1:2 Adli (61.), 2:2 Andrich (90.+6)
Leverkusen: Hradecky - Kossounou, Tah (46. Hincapie), Tapsoba - Frimpong (89. Tella), Palacios, Andrich, Grimaldo (89. Stanisic) - Hofmann (74. Wirtz), Schick (74. Boniface), Adli. - Trainer: Alonso
Stuttgart: Nübel - Stergiou (81. Rouault), Anton, Ito, Mittelstädt - Karazor, Millot (74. Dahoud), Leweling (90. Stenzel), Führich (81. Rouault) - Undav (74. Jeong), Guirassy. - Trainer: Hoeneß
Schiedsrichter: Felix Zwayer (Berlin)
Gelbe Karten: Palacios, Kossounou (3), Hincapie (2), Andrich (4), Hincapie (2) - Undav (4), Millot (5), Mittelstädt (5)
Zuschauer: 30.210 (ausverkauft)
Um die 300 Minuten standen sich der Meister und der Tabellendritte in dieser Spielzeit gegenüber. Und fast jede Minute war ein Genuss. Die technische Klasse der Einzelspieler, die Selbstverständlichkeit, mit der die Teams kombinieren und die Gier, die sie ausstrahlen, das alles ist im deutschen Fußball seit Monaten einmalig, nein, zweimalig. Darauf, dass sich in BayArena erneut die besten Mannschaften des Landes duelliert hatten, wollte sich VfB-Coach Sebastian Hoeneß nicht einlassen. Er habe einen Statistikbogen vor sich liegen, da stehe Bayer auf eins und der VfB auf drei. Mit 17 Punkten Rückstand, wie er fassungslos feststellte. Demzufolge seien es eben nicht die Spitzenzwei gewesen.
Nur im direkten Duell mit dem VfB konnte der FC Bayern mithalten
Zwischen den großen Protagonisten dieser Spielzeit liegt noch der FC Bayern, der zwar nach Punkten besser dasteht als die Stuttgarter, dem VfB aber in seiner mitreißenden Art Fußball zu spielen nicht folgen kann. Dass der entthronte Rekordmeister ausgerechnet im bislang einzigen Duell mit den Schwaben eine seiner absoluten besten Leistungen dieser turbulenten Runde ablieferte und 3:0 gewann, ist eine kuriose Ironie dieser These. Dass Hoeneß nun leise und demütige Töne anstimmt, mag auch am anstehenden Duell am kommenden Samstag liegen. Und vielleicht auch an den familiären Banden zu Onkel Uli, der seinen Klub mit einer überraschen Attacke auf Noch-Trainer Thomas Tuchel mächtig erbeben ließ. Aber angeschlagene Gegner sind ja die gefährlichsten.
Alles andere als leise war Sebastian Hoeneß zuvor gewesen. Nach dem 2:2, das sich für seine Männer wie eine Niederlage anfühlte, weil sie ihr Ziel, das Ende der Leverkusener Serie, nicht erreicht hatten, ging er wortreich auf Schiedsrichter Felix Zwayer los. Der Referee, der für Deutschland zur EM reist, hatte nicht nur ein ruppigen Schlagabtausch zugelassen, sondern vor dem 2:2 aus Sicht des VfB gleich mehrere Dinge falsch entschieden. Die angezeigte Nachspielzeit war schon abgelaufen, als es einen Freistoß nach Foul des eingewechselten Pascal Stenzel gab. Nach dem hereingesegelten Standard schubste Bayer-Stürmer Victor Boniface seinen Gegenspieler, der Ball landete am (angelegten) Arm von Piero Hincapie und schließlich vor Andrich.
Sportdirektor Fabian Wohlgemuth stellte hernach, so diplomatisch wie möglich, die Zukunft des VAR infrage. Der aufgebrachte Stürmer Deniz Undav blaffte "bester Schiri, Top-Schiri" durch die Katakomben der Arena und Hoeneß lederte minutenlang gegen die Entscheidungen von Zwayer. Die Conclusio seiner Ausführungen: kein Verständnis für gar nichts. Das hatte er in Teilen mit seinem Pendant gemeinsam. Nach einer erregten Debatte an den Bänken hatten Hoeneß und Xabi Alonso jeweils Gelb gesehen. Für den Meistercoach war es bereits die vierte Verwarnung, er ist bei Eintracht Frankfurt gesperrt. Warum er den Karton gesehen hatte, wusste er indes nicht. Die Diskussionen seien emotional gewesen, aber respektvoll, befand er bei der Pressekonferenz in aller Höflichkeit. Der immer noch grimmige Hoeneß nickte zustimmend.
Zwayer verliert die Kontrolle über das Spiel
Dass an der Seitenlinie, in den Katakomben und auf dem Pressepodium während und nach dem Spiel nicht nur über den fußballerisch einmal mehr rasanten Abend gesprochen wurde, sondern auch über Zwayer, hatte der deutsche EM-Schiedsrichter selbst herbeigepfiffen. Seine Linie der Spielleitung war ihn etwa so gerade, wie ein Haken schlagender Hase auf der Flucht. Mit jedem Pfiff wurde die Lage unruhiger, diese hitzige Atmosphäre griff vom Feld auf die Ränge über und kam von dort mit Wucht zurück. Nach 26 Minuten foulte Atakan Karazor Gegenspieler Palacios. Zwayer unterband den Vorteil für Bayer, weil der Weltmeister mit Schmerzen am Boden lag. Unmut. Auch darüber, dass der Schiedsrichter keine Karte zeigte. Die gab es fünf Minuten später, im selben Duell, doch dieses Mal hatte Palacios zugelangt, nicht besonders hart indes.
Sportlich hatten sich die Gewichte bis dahin stark auf die Seite der Gastgeber verschoben. VfB-Stürmer Serhou Guirassy hatte nach 14 Minuten zwar völlig alleine einen Kopfball neben das Tor gesetzt, sonst aber drückte Bayer den VfB tief in die eigene Hälfte. Alejandro Grimaldo scheiterte (29.) an Alexander Nübel, Patrik Schick vergab danach freistehend, unglücklich. Vom mutigen Pressing der Schwaben aus dem Pokal-Duell war nichts zu sehen. Es war mehr Kampf als Kultur. Es krachte immer wieder. Noch war die Härte erträglich. Doch mit den Szenen zwischen Karazor und Palacios kippte die Stimmung. Odilon Kossounou packte sich nach 42 Minuten Undav am Trikot, hielt ihn, zerrte ihn nieder, unterband einen Konter. Der DFB-Stürmer ließ den Bayer-Hünen auflaufen, der schubste Undav zu Boden. Kleine Rangelei, kleine Rudelbildung. Gelb für beide. Dann Pause.
Tore und Turbulenzen im Minutentakt
In der blieb Jonathan Tah draußen. Der Abwehrchef der Leverkusener hatte einen Schlag abbekommen. Nichts Ernstes, nichts Großes. Aber mit Blick auf das Europa-League-Halbfinale am Donnerstag wollte Alonso kein Risiko eingehen. Bei Bayer waren nun keiner der großen Drei mehr auf dem Feld. Granit Xhaka, das Hirn, fehlte gesperrt und Magier Florian Wirtz bekam eine Erholungsauszeit, saß wie einige andere Stammkräfte (bis zur 74. Minute) auf der Bank. Für Leverkusen hatte das bittere Folgen. Die Ordnung ging komplett verloren. EM-Kandidat Chris Führich drosch einen Abpraller nach 47 Minuten spektakulär und voller Selbstvertrauen ins Tor, neun Minuten später erhöhte Undav auf 2:0. Die erste Bayer-Pleite der Saison, sie wirkte plötzlich so nah. Und sie wäre wohl in Stein gemeißelt gewesen, hätte Guirassy weitere vier Minuten später auf 3:0 gestellt, doch er schob vorbei.
Stuttgart war nun leidenschaftlich beseelt davon, die monströse Serie der Gastgeber aufzufressen. Im Saloon BayArena fielen alle Hemmungen. Andrich trat Enzo Millot von hinten in die Füße, Rudelbildung, Gelb (58.). Edmond Tapsoba schubste Maxi Mittelstädt, keine Verwarnung. Das Duell gönnte sich keine Atempause mehr. Leverkusen rannte wie der Teufel an, Amine Adli verkürzte (61.). Undav schimpfte auf Zwayer ein, kassierte aber keine zweite Verwarnung. Dann feuerte Adli einen hammerharten Schuss auf Nübel. Der parierte erst großartig, beim Nachschuss von Jonas Hofmann sogar sensationell (65.). Hofmann wurde wenig später von Millot ruppig abgeräumt, Gelb (69.). Turbulenzen an der Seitenlinie. Gelb für beide Trainer (70.). Plötzlich wieder Guirassy, der den Ball aus fünf Metern nicht über die Linie drücken konnte (72.), Führich setzte ebenfalls zart daneben (73.).
Dann sah Mittelstädt Gelb. Den ständig weg sprintenden Jeremie Frimpong konnte er nur mit Foul stoppen. Der Freistoß landete auf dem Kopf von Kossounou und im Tor, knapp Abseits (77.). Piero Hancapie packte den Ellenbogen aus, streckt Jamie Leweling zu Boden, Gelb (83.). Stuttgart verteidigt mit allem, was sie hatten. Und konterte auf den Sieg. Lukas Hrdackey verhinderte mit einer Superparade das 1:3 (87.). Hoeneß will Zeit von der Uhr nehmen, bringt Stenzel. Das soll 30 Sekunden mehr an Nachspielzeit bringen, sagten ihm die Referees an. Stenzel langt zu, Freistoß, Tor, 2:2. Hoeneß ist restlos bedient, die Stuttgarter schäumen vor Wut. Xabi Alonso genießt und versteht den Moment nicht. "Es gibt keine Erklärung, warum das im Fußball passiert", sagte der Coach, der den 15. Treffer der Werkself in dieser Saison in der Nachspielzeit mit völlig ungläubigem Blick verfolgt hatte: "Ich kann nichts sagen - aber es war gut für uns." Für Andrich war es "einfach nur geil, wie die Mannschaft das Ding nicht verlieren" wollte. Er könne sich "vorstellen, dass die Gegner im Hinterkopf haben: Scheiße, wir dürfen nicht abschalten". Lucky Leverkusen feiert, der Saloon bebte.
Quelle: ntv.de