Nimmermüder Coach und KämpferEin Spiel, das nur Thomas Müller spielen kann

Der letzte Schritt sollte einer zu viel sein: Das Märchen der Vancouver Whitecaps endet im MLS-Endspiel gegen Lionel Messi und Inter Miami. Zu Thomas Müllers Performance drängt sich vor allem eine Frage auf: Wo hört der Spieler auf, wo fängt der Trainer an?
Es wäre eine unglaubliche Geschichte gewesen. Denn wann war Thomas Müller schon mal der klare Außenseiter? Und doch steht er hier, wenige Monate nach seinem Wechsel in die MLS, gegen die Millionen-Truppe von Inter Miami rund um Lionel Messi, Sergio Busquets, Jordi Alba und Rodrigo de Paul. Alle vier sind Weltmeister.
Weltmeister ist Müller zwar auch, doch seine Mitspieler dürfte kein einziger deutscher Fußballfan kennen. Noch dazu findet das Spiel in Miami statt. In Hollywood würde Thomas Müller seinen neuen Klub mit einem Doppelpack zum Sieg führen. Doch Los Angeles und Miami trennen nun mal 3700 Kilometer (oder passender: 2300 Meilen). Die stehen einem kitschigen Blockbuster mit Happy End für Müller im Wege.
Das erste Aufeinandertreffen zweier Weltmeister in einem MLS-Finale ist nicht der Durchmarsch, den alle erwartet hatten. "From the moment Thomas Müller set foot in Canada, they had the believe that this is their year", tönen die Kommentatoren auf AppleTV nach Vancouvers zwischenzeitlichem Anschlusstreffer zum 1:1.
Nur Klemmbrett und Mütze fehlen
Die erste Halbzeit hatte furchtbar begonnen, durch ein Eigentor liegt Vancouver bereits in der achten Minute hinten. Müller fordert Bälle, unablässig. Und er ärgert sich, wenn er sie nicht bekommt. Er hat selbst mit einem Kopfball eine große Chance, legt seinem Teamkollegen Emmanuel Sabbi den Ball im Strafraum mustergültig auf, der schießt aus kurzer Distanz jedoch exakt auf die Brust von Miami-Keeper Rios Novo. Der war einfach stehen geblieben. Damit hat Sabbi nicht gerechnet. In Zeitlupe verschwindet diese Chance ins Nirwana.
Mit 0:1 geht es in die Kabine, aus der Vancouver nach 15 Minuten entfesselt wieder hervorkommt. Als hätte Thomas Müller ein Impulsreferat zum Thema Pressing gehalten, stehen die Kanadier dem favorisierten Gastgeber plötzlich auf den Füßen. Beinahe 70 Prozent Ballbesitz für Vancouver. Miami gerät ins Schwimmen – und knickt ein. In der 61. Minute erzielt Ahmed das 1:1, wenn auch unter Mithilfe des unsouverän wirkenden Miami-Keepers Rocco Rios Novo.
Direkt nach Wiederanpfiff jagt Sabbi die Kugel innerhalb weniger Sekunden gleich drei Mal an den Pfosten. Radio Müller sendet unbeirrt weiter, ordnet die eigenen Mannen im Pressing. Es gibt Sequenzen, in denen er den Verteidigern Vancouvers mehrfach geduldig und präzise aufzeigt, wohin der Ball gehen soll. Momente, die wie ein Ausschnitt aus der Zukunft wirken, nur eine Mütze und das Klemmbrett fehlen Coach Müller noch.
Es ist zu viel
Einer ebenjener Verteidiger, Adrian Cubas, pennt in der 71. Minute und verliert den Ball etwa zwanzig Meter vor dem Tor an den einen Spieler, an den er ihn besser nicht verloren hätte. Lionel Messi steckt die Kugel auf seinen Bodyguard Rodrigo de Paul durch, der vollstreckt eiskalt – 2:1.
Auf das Tor folgt die wildeste Phase des Spiels, doch wirklich gefährlich vor das Tor kommt Vancouver nicht mehr. Thomas Müller, von dem es eigentlich hieß, dass er nur Luft für 70 Minuten hat, steht in der 95. Minute noch immer auf dem Feld. Er gibt seinem Teamkollegen Sebastian Berhalter Anweisungen mit auf den Weg, wie das wichtige 2:2 vielleicht doch noch gelingen kann. Der kann nur noch atemlos nicken. Es ist zu viel. Dieses Spiel ist zu viel, der Gegner ist zu viel, vielleicht auch Müllers Anforderungen.
Eine Minute später lupft Leo Messi den Ball mit traumhafter Sicherheit in den Lauf von Tadeo Allende. Es folgt Jubel in Rosa. Und so endet die MLS-Saison und der Vergleich der beiden Weltstars mit einer kleinen Revanche für Messi, der gegen Müller so bittere Niederlagen hatte einstecken müssen (unter anderem im WM-Finale 2014). Die Performance beider Spieler erzählt viel über den Weg ihrer Teams ins Finale. Lionel Messi ist ein besserer Fußballer als Thomas Müller. War er immer.
Hollywood liebt Fortsetzungen
Möglicherweise ist er selbst heute noch einer der besten Spieler der Welt. Während die Nummer 10 Miamis sein Team mit der besten individuellen Saison, die die MLS je gesehen hat, zum Titel trägt, steht Vancouver in diesem Endspiel wegen allem, was Müller auch außerhalb des Platzes einbringt. Seine Ansprachen und sein Anspruch. Der unbedingte Wille zu gewinnen und der unbedingte Wille sein Team besser zu machen.
"Es gab viele schlaflose Nächte, ich habe aber immer an Miami und ein Team hier geglaubt", sagt Klubboss David Beckham nach dem Abpfiff, "wir haben immer den Fans versprochen, dass wir die besten Spieler und damit Erfolg holen. Im nächsten Jahr geht es weiter, aber heute feiern wir."
Und es geht definitiv weiter mit Lionel Messi, der seinen Vertrag vor Kurzem um gleich drei Jahre verlängert hat. Vancouver muss lediglich eine Klausel ziehen für eine weitere Saison mit Müller. Es ist also möglich, dass sich die beiden noch einmal in einem Endspiel gegenüberstehen. Hollywood liebt nichts mehr als Fortsetzungen. Und in seltenen Fällen übertreffen sie sogar den ersten Teil.