Zerstörer von Klopps CL-Traum? Eriksen - Tottenhams (un)heimliches Genie
31.05.2019, 21:16 Uhr
Christian Eriksen will mit Tottenham gegen Liverpool zum ersten Mal die Champions League gewinnen.
(Foto: imago/Insidefoto)
Im Champions-League-Finale gegen Liverpool kommt es bei Tottenham besonders auf Top-Vorbereiter Christian Eriksen an. Seine Fußballkarriere ist von vernünftigen Entscheidungen geprägt. Beinahe wäre der bescheidene Däne gar ein Spieler von Jürgen Klopp geworden.
Christian Eriksen ist einer dieser Fußballer, die in jeder schier ausweglosen Situation immer die spielerische Lösung suchen. Er ist einer dieser Fußballer, die nie gelernt haben oder nie lernen wollten, den Ball zur Not auch mal auf die Tribüne zu dreschen. Am 17. April wäre ihm das fast zum Verhängnis geworden. Es lief die 93. Minute im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League bei Manchester City, Eriksen lag mit Tottenham Hotspur 3:4 zurück. Das hätte nach dem 1:0-Erfolg im Hinspiel zum Weiterkommen gereicht, gerade so. Es waren nur noch ein paar Momente zu überstehen, als er rund 35 Meter vor dem eigenen Tor den Ball bekam und sofort von vier Gegenspielern umzingelt war.
Anstatt ihn so weit weg zu schlagen wie möglich, suchte er den eleganten Ausweg. Er spielte einen Rückpass, doch das Manöver misslang. City-Stürmer Sergio Agüero kam an den Ball und leitete ihn zu Raheem Sterling weiter, der aus kurzer Distanz traf. Plötzlich war Tottenham raus. So sah es jedenfalls aus. Dann nahm Schiedsrichter Cüneyt Cakir den Treffer zurück, weil der Videobeweis ergeben hatte, dass Agüero sich im Abseits befunden hatte. Eriksens Missgeschick blieb ohne Folgen, und er gestand hinterher, der "größte Glückspilz des Planeten" zu sein.
Tottenham hatte viel Glück in dieser Saison in der Champions League. Die Mannschaft war mehrmals fast schon ausgeschieden, in der Gruppenphase, in der Nachspielzeit gegen Manchester City und im Halbfinale gegen Ajax Amsterdam, als es nach drei der insgesamt vier Halbzeiten in Hin- und Rückspiel 0:3 stand. Doch die Mannschaft hat einen erstaunlichen Überlebenswillen gezeigt, rückte zum ersten Mal ins Finale der Königsklasse vor und setzt an diesem Samstag gegen den FC Liverpool (ab 21 Uhr im Liveticker bei n-tv.de) im Metropolitano-Stadion von Madrid auch auf Regisseur Eriksen, der ein bisschen robuster sein könnte und manchmal zu sehr auf der spielerischen Lösung beharrt - ansonsten aber fast nur Stärken hat.
Größtes Spiel in Eriksens Karriere
Der 27 Jahre alte Däne ist einer der laufstärksten Spieler der Premier League. Er beherrscht lange Pässe und kurze, mit seinen Zuspielen auf Heung-min Son, Lucas Moura und Harry Kane liefert er oft den vorletzten oder letzten Pass bei Tottenhams Angriffen und ist der beste Vorbereiter des Teams. Auch seine Schusstechnik ist formidabel. Sein Spiel kommt ohne Theatralik und ohne Schwalben aus. Eriksen ist das heimliche Genie der Spurs. In der zweiten Hälfte der gerade abgelaufenen Premier-League-Saison leistete er sich (wie der Rest der seiner Mannschaft) eine Schwächephase, trotzdem ist er gesetzt und kommt in dieser Spielzeit in allen Wettbewerben auf bislang 50 Einsätze. Spiel Nummer 51, das Finale gegen Liverpool, wird das größte. Das größte überhaupt in Eriksens Karriere. Es ist eine Karriere, die geprägt ist von vernünftigen Entscheidungen.
Er lernte das Fußballspielen in seinem Heimatort Middelfart und wechselte mit 13 Jahren zu Odense, dem größten Verein der Region. Schon damals zeichneten sich die charakterlichen Merkmale ab, die Eriksen auch heute noch ausmachen, nämlich Fleiß und Bescheidenheit. Sein damaliger Trainer Anders Skjoldemose berichtete im vergangenen Jahr dem "Guardian", wie Eriksen beim FC Chelsea oder dem AC Mailand vorgespielt habe: "Wenn er zurück kam, fragten die Jungs in der Umkleidekabine: Wie war es? Er sagte nur: Ja, es war ok. Können wir jetzt weiter trainieren?"
Madrid als neue Heimat?
Anstatt nach England oder Italien wechselte er mit 16 in die Niederlande, zu Ajax, einem Verein, der wie kein anderer Klub Europas dafür bekannt ist, jungen Spielern eine Chance zu geben. Dort wurde Eriksen zum Profi und zum Nationalspieler. Als er Sommer 2013 den nächsten Schritt machen wollte, hatte auch Jürgen Klopp Interesse. Der Trainer von Finalgegner Liverpool war damals noch bei Borussia Dortmund beschäftigt. Der Klub suchte Ersatz für den zum FC Bayern abgewanderten Mario Götze und beschäftigte sich mit drei Spielern, nämlich mit Henrich Mkhitaryan, Kevin De Bruyne - und mit Eriksen. "Wir haben alle drei intensiv beobachtet, doch wir wussten, dass wir nur einen bekommen können", sagte Klopp später der dänischen Zeitung "Ekstra Bladet". Die Entscheidung fiel bekanntlich auf Mkhitaryan.
Eriksen, der einem Transfer nach Dortmund offen gegenüberstand, wechselte stattdessen zu Tottenham und hat dort noch einmal "einen großen Schritt gemacht", wie Klopp beobachtete. Die Frage ist, wie es mit dem Dänen nach dem Finale gegen Liverpool weitergeht. Angeblich ist Real Madrid an einer Verpflichtung Eriksens interessiert, dessen Vertrag im kommenden Jahr endet. Tottenhams Vorsitzender Daniel Levy ist für sein Gespür für gute Geschäfte bekannt und verkaufte in der Vergangenheit schon Luka Modric und Gareth Bale an den spanischen Rekordmeister, letzteren für die damalige Rekordsumme von 100 Millionen Euro. Eriksens Preis würde wohl noch darüber liegen.
Ob Eriksen ein solcher Schritt reizen würde? Tottenham hat sich in der Spitze der Premier League etabliert in den vergangenen Jahren und gerade ein faszinierendes neues Stadion bezogen. Möglicherweise kann sich der Klub ab Samstagabend sogar Champions-League-Sieger nennen. Das sind ebenfalls gute Bedingungen für jemanden, dessen Karriere von vernünftigen Entscheidungen geprägt ist.
Quelle: ntv.de