Kann Xabi Alonso zaubern? Heißhungriges Bayer Leverkusen schießt sich die Füße wund
12.04.2024, 06:04 Uhr
Am Sonntag kann Bayer Leverkusen seiner Supersaison den ersten Titel schenken. Dann winkt tatsächlich die erste Meisterschaft der Vereinsgeschichte. Doch vorher steht noch die Europa League an. Gegen West Ham gibt es auf die Knochen und eine wilde Torjagd.
Was hat Xabi Alonso seinem Joker Jonas Hofmann mit auf den Weg gegeben? Eine kleine Ewigkeit redete der Supertrainer von Bayer Leverkusen auf den Nationalspieler vor dessen Einwechselung im ersten Europa-League-Viertelfinale gegen West Ham United ein. Hatte er ihm gesagt, dass er der Welt zeigen soll, dass er besser als Mario Götze ist? Hat er ihn mit jenem magischen Last-Minute-Zauberspruch belegt, der der Werkself in den vergangenen Wochen immer mal wieder den Hintern und damit die Superserie von nun 42 Spielen (!) ohne Niederlage gerettet hatte? Nun, Xabi Alonso wusste es nach dem späten 2:0 (0:0)-Erfolg gegen die Engländer nicht mehr. Er hatte, so sagte er, keine Erinnerung und lächelte. Ob nun geflunkert oder nicht, man glaubt es diesem Trainer gerne, der eine Mannschaft geformt hat, die ihresgleichen sucht. In Deutschland. In Europa.
Hofmann hatte den Weg zu einer weiteren Partynacht bereitet. In der 76. Minute spielte er erst einen bitteren Fehlpass, lief dann nach einem herrlichen Steilpass des ebenfalls eingewechselten Victor Boniface alleine auf Torwart Lukasz Fabianski zu (und kam einen Schritt zu spät), traf schließlich (83.) und legte dann noch das so wichtige zweite Tor von Boniface auf (90.+1). So wichtig, weil alle, die das Bayerkreuz im Herzen oder auf der Brust tragen, davon ausgehen, dass der Gegner nicht erneut so rätselhaft passiv auftritt. Sieben der zehn Feldspieler beschränkten sich ausschließlich auf die Gefahrenabwehr. Was sich nachhaltig auf die Schaffenskraft der Offensivkräfte Lucas Paqueta, Mohammed Kudus und Michail Antonio auswirkte. Schon Mitte der ersten Halbzeit hoben sie frustriert die Hände, fremdelten mit der Destruktivität ihres Teams.
Fünf Mann standen in der letzten Kette. Vier Mann davor. Der einzige, der im laufenden Spiel nicht mit Aufgaben vor dem eigenen Kasten betraut war, war Einzelkämpfer Antonio. Vor dem überraschend schnellen und extrem bulligen Angreifer hatte die Leverkusener durchaus Respekt. Neben Jonathan Tah, der sich bemerkenswerte harte Kämpfe im wahrsten Wortsinn mit dem 34-Jährigen lieferte, war auch Josip Stanisic offenbar aufgetragen worden, ein Auge auf den Stürmer zu haben. Nur einmal ließen sie ihn laufen, nach zehn Minuten brach er auf der Außenbahn durch und schob zu Kudus rüber, der aber schlecht abschloss. Es blieb über die gesamte Spielzeit der einzige Torschuss. Erstaunlich für eine Mannschaft, die im Achtelfinal-Rückspiel den SC Freiburg mit 5:0 zerlegt hatte - nach einem 0:1 aus dem Hinspiel. Diese Erinnerung ist auch eine Mahnung für Bayer.
Schlüsselspieler fehlen West Ham
"Sie werden nächste Woche ganz anders spielen", warnte Xabi Alonso. Sie werden, weil sie müssen. Do or die. Friss oder stirb. Dann vielleicht wieder mit prominenter Unterstützung. Mit Jarrod Bowen fehlte der beste Torschütze des Teams, der auch als Mentalitätsbiest unverzichtbar ist, verletzt. Edison Alvarez, den der BVB im vergangenen Sommer gerne verpflichtet hätte, war jetzt gesperrt und darf in London wieder mitmachen. Dafür fällt Paqueta aus, der einmal Amine Adli hart abgeräumt hatte - inklusive Rudelbildung und einem wütenden West-Ham-Coach David Moyes - und dafür mit Gelb noch gut bedient war. Weil es seine dritte im laufenden Wettbewerb war, muss er zuschauen. Dass er dann nur zwei Minuten später dem kleinen Magier Florian Wirtz voll auf den Fuß stieg und dafür nicht endgültig flog, brachte die Arena so richtig in Wallung.
Leverkusen: Kovar - Stanisic (67. Hincapie), Tah, Tapsoba - Palacios, Xhaka - Frimpong (67. Tella), Wirtz, Adli (76. Hofmann), Grimaldo - Schick (76. Boniface). - Trainer: Alonso
West Ham: Fabianski - Mavropanos (87. Johnson), Zouma, Cresswell - Coufal, Soucek, Ward-Prowse, Emerson - Kudus (87. Aguerd), Paqueta - Antonio. - Trainer: Moyes
Schiedsrichter: Artur Dias (Portugal)
Tore: 1:0 Hofmann (83.), 2:0 Boniface (90.+1)
Gelbe Karten: - Paqueta
Zuschauer: 30.210 (ausverkauft)
Richtiger wäre: Sie brachte die Arena erstmals gegen den Gegner auf. Nicht zum letzten Mal. Mit einigen langen Einlagen bei Einwürfen und Abschlägen handelten sich die Hammers immer wieder laute Pfiffe ein. Sonst aber war das Stadion ein euphorischer Kessel, der all das, was da gerade mit diesem Verein passiert, ungläubig in sich aufsaugt. Schon vor dem Stadion hatten sie sich warm gesungen für den Sonntag, wenn sie unbedingt den Titel in der Bundesliga klarmachen wollen. Die Hymne "Wir steh'n zu dir" von Peter Lorenz dichteten sie um. Statt der Vizekusen-Zeile "... und Deutscher Meister werden wir beim nächsten Ma" sangen sie plötzlich: "... und Deutscher Meister werden wir in diesem Jahr"! Widerspruch ist zwecklos. Niemand glaubt mehr daran, dass es noch das ganz große Drama gibt. Selbst vom FC Bayern, von Coach Thomas Tuchel und von Urgestein Thomas Müller wurden bereits Glückwünsche übermittelt. Was in München indes nicht überall gut angekommen sein soll.
Aber was passiert eigentlich am Sonntag? Mit den großen Titelpartys haben sie ja nicht so wahnsinnig viel Erfahrung. Da ist der UEFA-Pokalsieg von 1988 und der DFB-Pokalsieg von 1993. Anleihe könnten sich die Fußballer vielleicht noch bei den Basketballern nehmen, die die Bundesliga von Mitte der 80er- bis Mitte der 90er-Jahre beherrscht und in der naheliegenden Wilhelm-Dopatka-Halle große Triumphe gefeiert hatten. Ob's hilft? Eher nicht. Die Basketballer sind in der Pro B abgetaucht. Und was, was die Fußballer gerade schaffen, ist in der Dimension einfach größer. In der Stadt, im ganzen Land. Dass der große FC Bayern entmachtet wird, lässt dem Klub, der so oft für den Quotentod bei Live-Übertragungen stand, noch einige Herzen mehr zufliegen.
Mit der Geduld der Abrissbirne
Auch gegen West Ham brachte die Mannschaft all das auf den Platz, was sie zur neuen deutschen Fußball-Perfektion hat werden lassen. Das ist dieses wahnsinnige Tempo über Jeremie Frimpong, Adli und Wirtz. Da ist diese unglaubliche Ruhe und Abgezocktheit, die Granit Xhaka und Exequiel Alejandro Palacios im Zentrum ausstrahlen. Oder auch die Abwehrreihe um Tah, der nie dagewesene Konstanz und Robustheit an den Tag legt. Und da ist diese Genialität, die ein Alejandro Grimaldo ins Spiel bringt. Und ein Wirtz eh. Aber da ist eben auch eine wahnsinnige Geduld und ein gigantischer Glaube, dass die Dinge immer auf der richtigen Seite landen.
Was hatten sich die Fußballer der Werkself an diesem Donnerstagabend die Füße wund geschossen. 32 Schüsse gaben sie ab. Wie ein Handballteam bauten sie einen Angriffsriegel um das Hammers-Bollwerk auf. Und wie eine Abrissbirne ließen sie ihre Angriffe auf die englische Mauer knallen. Am Anfang gab es nur Staub, weil die Beine der Hammers im Weg waren oder Fabianski zur Stelle. Zweimal flog er spektakulär, einmal nach einem Versuch von Adli (10.) und einmal nach einem Schlenzer von Grimaldo (20.). So ging es weiter. Beharrlich wurde das Mauerwerk der Gäste bearbeitet, bis es so porös war, dass der Schuss von Hofmann einschlug (83.) und dann auch noch Boniface nach langer Verletzung wieder einen Glücksmoment erlebte. "Wir haben einmal mehr gezeigt, dass wir Geduld, Qualität und den Glauben haben, dass wir zum Schluss das Tor erzielen können", lobte Xhaka. "Das zweite Tor wird uns brutal viel für das Rückspiel helfen."
"Wir wissen, was am Sonntag passieren kann"
Wieder einmal hat Alonso sein magisches Händchen bewiesen. Was steckt dahinter? Nur Glück? Ein Zauber? Die Antwort ist erschütternd simpel: "Es ist wichtig, dass alle Spieler bereit sind, von der Bank aus zu spielen und nicht nur in der Startelf zu stehen. Alle Spieler haben diesen Wunsch, zu helfen und den Willen, auf dem Platz bereit zu sein." Wie Boniface und Hofmann. Der konnte sich übrigens besser an das erinnern, was ihm sein Trainer vor der Einwechselung eingeflüstert hatte: "Er hat mir ein paar taktische Anweisungen gegeben und gesagt, dass ich mehr in der letzten Linie sein soll und vielleicht sogar als zweiter Stürmer spielen soll."
Und jetzt? Feiern? Aber nein. Sonntag wartet Werder Bremen (17.30 Uhr/DAZN und im ntv.de-Liveticker). Der womöglich letzte Stein, der der Schale noch im Weg liegen soll. Und gerne wollen es die Bayer-Profis selbst richten und nicht auf der Couch von den großen Gefühlen weggerissen werden. Die Sessel-Meisterschaft wäre möglich, wenn der FC Bayern (zu Hause gegen den 1. FC Köln) und der VfB Stuttgart (zu Hause gegen Eintracht Frankfurt) verlieren. "Wir wissen, was am Sonntag passieren kann", sagte Xhaka. "Wir müssen trotzdem ruhig bleiben, nicht übermotiviert spielen und unser Spiel so durchziehen, wie wir es jetzt gemacht haben. Dann hoffentlich mit dem Dreier die Meisterschaft genießen." Aber nur kurz, denn Donnerstag wartet West Ham, das Rückspiel. Bayer hat Heißhunger auf Titel.
Quelle: ntv.de