
Pal Dardai, Herthinho und die letzten Minuten.
(Foto: Stephan Uersfeld)
Die Geschichte vom Absturz eines Größenwahnsinnigen unterhält die Bundesliga seit Jahren. Diese aber ist auserzählt. Die DFL droht Hertha BSC mit Lizenzentzug, das sportliche Überleben ist unsicher, eine turbulente Mitgliederversammlung steht vor der Tür. Ist der Klub überhaupt noch zu retten?
Die Stimmung hätte nicht besser sein können. In der Alt-Berliner Kneipe "Zum Hecht" am Stuttgarter Platz in Charlottenburg saßen die Fans von Hertha BSC zusammen und begossen am vergangenen Samstag den ersten Sieg ihres Vereins unter Pal Dardai. Die drei Punkte gegen den VfB Stuttgart bescherten dem Tabellenletzten der Bundesliga eine Gnadenfrist im Abstiegskampf. Vor den letzten drei Spielen hat der Klub aus dem Westend Berlins nur noch drei Punkte Abstand auf den Relegationsrang. Noch kann sich Hertha retten. Drei Spiele, drei Siege und im nächsten Jahr doch noch einmal erste Liga? Den glückseligen Fans war es egal.
"Ich kaufe mir wieder eine Dauerkarte", rief Knut Beyer durch die überfüllte Kneipe. Beyer ist seit den 1970ern Fan der Hertha. Mal mehr, manchmal weniger. Gerade wieder sehr. Ein anderer, gerade erst Anhänger geworden, schimpfte glücklich. Seine neue Liebe habe ihm auf immer das Wochenende verdorben. "Früher bin ich Rad gefahren, früher habe ich Ausflüge gemacht", erzählte er, "und jetzt immer nur Hertha."
Der Verein bewegt, doch um die Zukunft scheint es schlecht bestellt zu sein. Wieder einmal steht bei Hertha vor entscheidenden Tagen alles auf dem Spiel. Die DFL spricht vom "schlimmsten Fall, den wir je hatten" und überlegt, so berichtet die "Süddeutsche Zeitung", ob dem Klub die Lizenz für die kommende Saison überhaupt erteilt werden kann. Weil die Schulden zu hoch sind, weil sich der neue Investor 777 Partners zu sehr einmischt. Weil sie Hertha sind, vermuten die, die Hertha sind. Im schlimmsten Fall droht die Regionalliga. Das ist Fakt.
"Hertha ist ein Sanierungsfall"
In der Bundesliga geht es am Freitag beim 1. FC Köln (20.30 Uhr/DAZN und im ntv.de-Liveticker) ums nackte Überleben und am Sonntag erwartet den Klub eine turbulente Mitgliederversammlung. Ein Jahr nach seiner Amtsübernahme steht der immer noch neue Präsident Kay Bernstein vor einem gigantischen Scherbenhaufen. In epischer Breite wälzt der Boulevard bereits einen Abwahlantrag eines Vereinsmitglieds aus. Dieser liegt auch ntv.de vor. Der 30-seitige Antrag gipfelt in antisemitischen Andeutungen rund um die Geldgeber des Vereins und diskreditiert sich allein dadurch. Trotzdem ist er in der Welt und potenziert noch einmal die Aufregung um den Hauptstadtklub.
Längst hat die Klubführung eingestanden, dass Hertha BSC sich in einer wirtschaftlichen Ausnahmesituation befindet. "Der Begriff 'existenziell' ist nicht zu hoch gegriffen. Die Hertha ist ein Sanierungsfall", hatte Geschäftsführer Thomas Herrich Mitte April der "Süddeutsche Zeitung" gesagt. Allein für die laufende Spielzeit wird ein Fehlbetrag von über 60 Millionen Euro erwartet, fast die gesamten Verbindlichkeiten in Höhe von 90,8 Millionen Euro müssen noch in diesem Jahr beglichen werden. Wie das geschehen soll, ist noch nicht abschließend geklärt. Wie bei einem "Sanierungsfall" üblich, kommt es auch auf der Geschäftsstelle zu erheblichen Einsparungen. Das Personalbudget muss deutlich reduziert werden. Allein durch eine Verringerung der Kosten für den Lizenzspielerkader ist dies nicht zu stemmen. Wo so viel Bewegung ist, gibt es viele mit ihrer Situation unzufriedene Menschen.
"Berliner Weg" hat (noch) keinen Erfolg
Angefeuert von der nach Skandalen gierenden Hauptstadtpresse sieht sich der Verein so auch außerhalb des Platzes etlichen Widerständen ausgesetzt. Er fand schon das ganze Jahr über keinen Weg, sich gegen die immer neuen Enthüllungen zu stemmen. Längst finden Informationen aus dem Vereinsinneren wieder den Weg an den Boulevard. Die Standleitung konnte anders als erhofft auch von der neuen Vereinsführung nicht gekappt werden. Doch während die meisten der Enthüllungen maximal regionalen Charakter hatten, sorgte ein Bericht der "Financial Times" sogar für internationale Schlagzeilen. Sie enthüllten einen Spionageskandal rund um den zweifelhaften Investor Lars Windhorst.
Dessen 374 Millionen Euro hatten den Kader nur schlechter und den Verein nur kaputter gemacht, seine Vision vom "Big City Club" Hertha BSC letztendlich nahezu fatal geschadet. In dieser Vision spiegelte sich eine Großkotzigkeit, die maximal abstoßend wirkte und mit jeder weiteren Niederlage zum Gespött der Nation machte. Die guten Dinge, die es bei Hertha durchaus gibt, fanden selten den Weg in die Öffentlichkeit. Windhorst wurde aus dem Verein getrieben, der "Big City Club" beerdigt und auch in Ermangelung von Alternativen der "Berliner Weg", einer mit regionalem Fokus, ausgerufen. Mit 777 Partners fand sich ein neuer Geldgeber. Das US-Konsortium ging mit dem Wissen um Herthas finanzielle Schieflage in die Gespräche und reizte alles aus.
Immer wieder Zwist in der Hertha-Geschäftsstelle
Auch auf dem Platz ging weiter alles schief, was schiefgehen konnte. Die Saison begann mit zwei herben Niederschlägen. Da hatte der damalige Geschäftsführer Fredi Bobic den Kader schon massiv ausgedünnt. Beinahe täglich wechselte jemand irgendwohin. Unruhe war die Konstante in der Vorbereitung. Bei Eintracht Braunschweig setzte es eine Erstrundenniederlage im Pokal, das Derby bei Union Berlin ging krachend verloren.
Nur kurz sah es so aus, als ob Hertha mit Trainer Sandro Schwarz diesen Trend stoppen könnte. Es gelang nicht. Hertha befand sich eine komplette Saison über im Abstiegskampf, bewertete kurzzeitige Verbesserungen als Aufschwung und trennte sich viel zu spät von Schwarz. Für ihn kam der ewige Pal Dardai. Eine interne Lösung. Wie schon Sportdirektor Benny Weber, der im Januar auf den in den letzten Tagen der Wintertransferperiode gefeuerten Fredi Bobic folgte. Bobic liegt weiterhin im Clinch mit dem Verein. Er will an das ihm seiner Ansicht nach zustehende Gehalt. Ein Fall für die Gerichte und nur eine Nebenerzählung in dieser turbulenten Saison.
Die neuerlichen Schock-Nachrichten aus der DFL-Zentrale via "Süddeutsche Zeitung" hatten in dieser Woche auf der Hertha-Geschäftsstelle für ordentlich Wirbel gesorgt. Die Vereinsführung habe "sehr aufgeregt" auf den Bericht über einen möglichen Lizenzentzug reagiert. Dass es Gespräche zwischen Klub und Liga gibt, hatte Bernstein bereits Mitte März bei der Vorstellung des neuen Investors 777 Partners bestätigt. Damals war er jedoch guter Dinge, eventuelle Probleme im Vorfeld adressiert zu haben.
Es gibt Beispiele für Herthas Klub-Investoren
Der Einstieg von 777 Partners selbst hatte ohnehin schon genug neue Fragen aufgeworfen. Agieren die Investoren aus Miami wie ein klassisches Start-up? Warten sie also nur auf den richtigen Moment, um ihre Fußballsparte meistbietend an ein bereits bestehendes Imperium abzutreten? Dieser Verdacht ergab sich unter anderem aus publik gewordenen Gesprächen des Investors mit den umstrittenen saudischen Besitzern von Newcastle United und auch mit dem amerikanischen Konsortium hinter dem FC Chelsea. Möglich machen würde das unter anderem eine von UEFA-Präsident Aleksander Čeferin angedachte Lockerung der Multi-Club-Ownership. Ein neuer Trend im Fußball, bei dem sich Investoren gleich zahlreiche Vereine halten und sich so einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können.
Dabei ist Hertha BSC nicht einmal der erste Klub unter Multi-Club-Ownership innerhalb der DFL. "New City Capital" mit dem chinesisch-amerikanischen Investor Chien Lee hält neben Anteilen an dem Zweitligisten 1. FC Kaiserslautern ebenfalls Anteile an Klubs in unter anderem England, Belgien, den Niederlanden und der Schweiz. Mit David Blitzer hat sich während der Pandemie bereits ein US-Investor in die Bundesliga eingekauft. Zu seinem Portfolio gehören neben dem FC Augsburg, an dem er mit 45 Prozent beteiligt ist, auch Vereine in England, Dänemark, den USA und den Niederlanden. Der Fall Red Bull mit seinem deutschen Aushängeschild Leipzig ist hinlänglich bekannt und doch längst im Kreise der 36 Ligaklubs akzeptiert.
Die Liga hält weiterhin an der 50+1-Regelung fest, doch sie ist über die Jahre ausgehöhlt und hinterfragt worden. Die Pandemie der letzten Jahre wirkte dabei als Brandbeschleuniger. "Wenn die Zuschauer nicht zurückgekommen wären", sagte DFL-Interimboss Axel Hellmann am Montag auf einer Podiumsdiskussion in Dortmund, "hätten wir 50+1 nicht mehr." So prekär stellt sich die Situation in den vergangenen Jahren für zahlreiche Klubs in der Liga dar, nicht nur für Hertha BSC.
Auch die DFL sucht einen Investor
Wie schon so oft, wird nach den Enthüllungen der "Süddeutschen Zeitung" im Vereinsumfeld die Frage gestellt, warum immer wieder an Hertha BSC ein Exempel statuiert werden soll? Denn das ist das alles beherrschende Gefühl rund um den Klub, der wieder einmal in einer äußerst ungünstigen Gemengelage mit negativen Schlagzeilen ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird. Die DFL selbst ist auf der Suche nach einem Investor. Seit Wochen schon protestieren die Fans der meisten Bundesligavereine. Sie befürchten den weiteren Ausverkauf der Liga. Das Ringen mit den neuen Hertha-Investoren kann auch als Signal verstanden werden, dass die Liga sich die Bedingungen nicht diktieren lassen will. Konkrete Anhaltspunkte gibt es dafür jedoch nicht.
Immerhin die Zuschauer kehrten in dieser dunklen Spielzeit zurück in das ungeliebte Olympiastadion, das auch in den nächsten Jahren die Heimspielstätte der Hertha sein wird. Die Pläne für den Stadionneubau sind geduldig. Immer noch gibt es keine Gewissheit, ob Hertha jemals aus der riesigen Schüssel ausziehen wird. Aktuell haben sich alle mit der Situation abgefunden. Hertha hat mit 52.471 Zuschauern den vierthöchsten Schnitt der Liga und kratzt am historischen Bestwert aus der Spielzeit 2011/2012. Im damaligen Abstiegsjahr passierten insgesamt 908.630 Zuschauer die Stadiontore. Bei einem noch ausstehenden Spiel fehlen am vorletzten Ligaspieltag noch 64.695 Besucher beim Abstiegsgipfel gegen den VfL Bochum. Keine schlechte Ausbeute für den oft verspotteten Verein.
Als am vergangenen Samstag beim Spiel gegen den VfB Stuttgart die letzten Minuten angebrochen waren, gestikulierte Trainer Dardai wüst an der Seitenlinie, immer wieder zeigte er auf die Uhr. Es sollte nur vorbei sein. Hinter ihm hatte sich Herthinho, das Maskottchen der Hertha aufgebaut, und auf den Tribünen standen die Fans der Hertha. Jessic Ngankam trieb den Ball in Richtung Eckfahne. Er spielte auf Zeit. Schiedsrichter Deniz Aytekin beendete das Drama. Die Erleichterung war riesengroß. Das Stadion sang von dem einen Verein, der es immer sein soll- sie sangen von Hertha BSC und sich die Anspannung von der Seele. Die Schicksalstage des Vereins hatten da jedoch überhaupt noch nicht begonnen. Im Westend schauen sie in einen tiefen Abgrund.
Quelle: ntv.de