Ex-Bayern-Spieler Nachtweih "Ich habe keinen Grund, auf die DDR einzuprügeln"
16.11.2024, 14:34 Uhr
Nachtweih fühlt sich bis heute als "Ossi".
(Foto: picture alliance / ZB)
Der 1976 in den Westen geflüchtete Fußball-Profi Norbert Nachtweih steht dazu, sich bis heute als "Ossi" zu fühlen, obwohl er gern im Westen lebt. Sein Satz, "die Stasi war schlimm, aber die DDR habe ich geliebt", sorgt für Debatten. Warum wühlt der Versuch einer differenzierten Betrachtung der DDR eigentlich so auf?
Nach 322 Bundesliga-Spielen für Bayern München und Eintracht Frankfurt, vier Meistertiteln, drei Pokalsiegen und einem UEFA-Cup-Gewinn will Franz Beckenbauer im Sommer 1990 Norbert Nachtweih mit zur WM nach Italien nehmen. Als Allzweckwaffe im späteren Weltmeisterkader. Aber Norbert will nicht. Weil es sich für ihn nicht richtig anfühlt. Er ist - 14 Jahre nach seiner spektakulären Flucht als U21-DDR-Auswahlspieler über die Türkei in die Bundesrepublik - noch immer nicht im Westen angekommen. Er ist gewissermaßen DDR-Bürger geblieben. Obwohl Norbert alle Spieler kannte, mit den meisten sogar befreundet war und Beckenbauer ihn dabeihaben wollte, ließ er das Trikot mit dem Bundesadler links liegen.
Als Co-Autor seiner Autobiografie "Zwischen zwei Welten" bin ich immer wieder über diesen Punkt gestolpert, habe ich mir Gedanken gemacht, was Norbert geritten hat, dass er die Möglichkeit verstreichen ließ. Immerhin hätte er von einem außergewöhnlichen Bundesliga-Kicker zum Weltmeister werden können. Ich hatte echte Mühe, in den Recherchen und beim Schreiben seine Gefühlslage nachzuvollziehen. War es nicht die Chance seines Lebens? Oder war es einfach nur aufrichtig, seinen Kumpels Augenthaler, Brehme und Matthäus beim Zuschauen der Spiele - mit den Füßen im Wasser seines Pools in den Bergen über Cannes - die Daumen zu drücken?
Nach der Veröffentlichung des Buches bekam und bekommt Norbert gerade für diese Entscheidung Applaus, natürlich vor allem aus Ostdeutschland, aber nicht nur. Auch in der Berichterstattung über "Zwischen zwei Welten" wird der Aspekt betont. Der "Spiegel" etwa hob hervor: "Stattdessen hat er sich für die letzten Spiele der DDR-Nationalelf 1990 angeboten." Die Frage, die sich daraus ergibt und nicht nur mich umtreibt: Weshalb fühlt sich Norbert bis heute als Ostdeutscher, der frei heraus zugibt, niemals im Westen angekommen zu sein, obwohl er sich in Hessen pudelwohl fühlt und die DDR keinesfalls zurück haben will? Ich fand sein Ringen um Differenzierung beeindruckend, das in dem Satz kulminierte: "Die Stasi war schlimm, aber die DDR habe ich geliebt." Das heißt wohl so viel wie: Ich lasse mir meine Heimat von ein paar Typen der Staatssicherheit nicht kaputt machen.
Den Nachtweihs war Politik nie wichtig
Dabei hat er seit seiner Flucht im November 1976 die DDR bis 1989 nicht mehr betreten dürfen und den Osten seit dem Fall der Mauer jeweils nur für ein paar Tage am Stück gesehen. Am längsten, als er zum Jahreswechsel auf 1990 zu Hause bei der Familie war und bei einer missglückten Spritztour mit einem in München geliehenen Range Rover auf einem Kartoffelacker beinahe ums Leben gekommen wäre. Dennoch spricht er als "Ossi" von sich. Warum? Weil Norbert damit die Erinnerungen an seine Kindheit in Polleben im Harz verbindet. An das einfache unbeschwerte Leben, das er bis zu seinem Wechsel vom Dorfverein zur Sportschule nach Halle an der Saale genossen hat. Diese Erinnerungen sind sein "Happy Place". Ein ganz privater und vertrauter Flecken in seiner Erinnerung, an dem wir, selbst wenn wir suchen, nichts politisch Verwerfliches finden. Denn "politisch" war in seinem kindlichen und jugendlichen Leben nichts. Er kannte nur: Fußball.

Mit dem FC Bayern wurde Nachtweih viermal Deutscher Meister, zuletzt 1989.
(Foto: imago sportfotodienst)
Taugt er damit heute als Repräsentant der damaligen Deutschen Demokratischen Republik in der aktuellen gesellschaftlichen Ost-West-Debatte? Einer Debatte, die Identität individueller betrachtet und nicht alle DDR-Bürger zu Verlierern oder gar Mittätern macht. Meiner Meinung nach: absolut. Weil sein Umgang mit seinem Leben in der DDR ein rein privater ist. Weil Norbert sich mit seinen Eltern und Geschwistern einfach ein schönes Leben machen wollte, im Rahmen der Möglichkeiten und ungeachtet der Denkmuster, die in Schule, Beruf und Alltag vorgegeben waren. Den Nachtweihs war Politik nie wichtig. Entscheidend war, was auf dem Fußballplatz passierte. Nicht, was hinter und vor der Berliner Mauer geschah, sondern neben der Mauer des Hauses, in dem Norbert mit Oma, Eltern und Geschwistern groß geworden ist. So haben viele Menschen in der DDR gelebt - vom Staat abgewandt.
"Meine Familie litt nicht brutal unter meiner Flucht"
Unser Buch ist - natürlich in Grenzen, denn im Vordergrund steht der Fußball - ein politisches geworden. Eines, was die Menschen auf beiden Seiten der früheren Grenze berührt. Kürzlich fragte ich Norbert, warum er glaubt, dass das Thema so aufwühlt? Warum sein Satz, "die Stasi war schlimm, aber die DDR habe ich geliebt", bei vielen Leuten Emotionen weckt? Ihm fiel spontan sein Auftritt bei "SWR Leute" ein. Dort rief während der Sendung jemand an, der es, wie er sagte, unerträglich fand, dass Norbert den Überwachungsstaat DDR so wenig kritisierte. Der Zuhörer, offenbar ein in der DDR politisch Verfolgter, protestierte.
Für die Position des Anrufers hat Norbert Verständnis. Mit den Betroffenen, den Opfern der Stasi-Willkür, empfindet er - und ich habe keine Zweifel an seinen Worten - tiefes Mitleid. Aber er steht zu seiner Aussage, dass er weder die DDR noch die Bürger der DDR verdammt, weil die DDR nicht nur auf die Staatssicherheit reduziert werden kann oder sollte. Die Verfolgungsmaßnahmen der Stasi gegen ihn im Westen habe er kaum bemerkt, sagt er. "Die Wanzen in der Wohnung meiner Schwester sind natürlich schlimm gewesen, aber niemand ist zu Schaden gekommen. Mit all dem Abstand", sagte er mir, "habe ich keinen Grund, auf die DDR einzuprügeln. Meine Familie litt nicht brutal unter meiner Flucht und ich habe von der Sportförderung der DDR profitiert. Ohne sie hätte ich niemals bei den Bayern gespielt."
Viele DDR-Bürger träumten von seinem Weg
Das wird dem einen oder anderen als naiv erscheinen, zumal es vage Indizien gibt, dass die Stasi einen Anschlag auf Norbert verübt haben könnte. Das Muster erinnert an den Autounfall, bei dem der ebenfalls in den Westen abgehauene Fußball-Profi Lutz Eigendorf 1983 ums Leben kam. In seinem Fall existieren klare Hinweise, dass ihn die Stasi ermordet hat. Lange habe ich - selbst in Sachsen-Anhalt aufgewachsen, aber deutlich jünger als er - mit Norbert über die ganze Thematik gesprochen. Und ja, ich verstehe, was er meint.
Am Ende war es ein Zufall, dass Norbert Nachtweih zu einem Fußballstar im Westen geworden ist. Weil ihn sein Schalk im Nacken zur mutigen Entscheidung verführte, in Bursa und Istanbul das Weite zu suchen, ist er zum Botschafter der DDR-Oberliga in der Fußball-Bundesliga geworden. Konsequenterweise aber nicht zu einem Weltmeister des da noch rein westdeutschen Teams. Sein Weg war einer, von dem so viele DDR-Bürger träumten, die sich innerhalb ihrer Mauern eingesperrt fühlten. Bis heute zeigt Norberts Lebensweg, dass es gut möglich ist, in Freiheit glücklich zu werden. Gerade das macht seine Geschichte 35 Jahre nach dem Fall der Mauer so relevant.
Quelle: ntv.de