Vom Normal One zum Unsterblichen Jürgen Klopps Tränen wärmen Liverpooler Herzen auf ewig
19.05.2024, 19:34 Uhr
Jürgen Klopp nach seinem letzten Spiel an der Seitenlinie des FC Liverpool.
(Foto: dpa)
Ach Kloppo. Der deutsche Star-Trainer weint bittere Tränen beim Abschied, genau dafür lieben sie ihn auf der Insel. Die Zeit von Jürgen Klopp beim FC Liverpool ist vorbei - doch er hinterlässt ein spezielles Vermächtnis, das für immer weiterlebt.
Ach Kloppo.
Jetzt ist sie vorbei. Die Zeit von Jürgen Klopp beim FC Liverpool. Der deutsche Star-Trainer nimmt beim 2:0-Heimsieg gegen die Wolverhampton Wanderers emotional Abschied vom Traditionsklub aus England, den er fast ein Jahrzehnt lang prägte. Und doch ist Klopps Anfield-Zeit nie wirklich vorbei. Sein Vermächtnis lebt weiter. Im Fußball des Vereins, durch die Geschichten, die auf der Kop-Tribüne erzählt werden. In den unzähligen Herzen der Arbeiterstadt, die er berührt hat.
Ein letztes Mal Anfield. Ein letztes Mal "You'll Never Walk Alone", in der Schlussphase "I'm so glad that Jürgen is a Red"-Sprechchöre. Nach dem Abpfiff wird es höchst emotional. Klopp verdrückt erst ein paar Tränen und zieht sich dann kurz in die Kabine zurück, ehe er für eine Feierstunde wieder auf den Rasen steht. Alles und jeden schließt er in seine Arme, verteilt seine in England Kult gewordenen großen Bear-Hug-Umarmungen. Seine Spieler herzen ihn wie einen Vater. Und natürlich durfte auch die Faust vor "The Kop" nicht fehlen.
"Ich bin so glücklich, ich kann es nicht glauben. Ich bin so glücklich über die Atmosphäre, über das Spiel, darüber, Teil dieser Familie zu sein, und über uns, wie wir diesen Tag feiern", sagte Klopp ins Stadionmikrofon. Dabei trug er einen roten Kapuzenpulli mit der Aufschrift "I'll never walk alone again" in Anlehnung an die Klubhymne. "Es fühlt sich nicht wie das Ende an, sondern wie ein Start", ergänzte Klopp, der in seiner Rede immer wieder von Fangesängen unterbrochen wurde.
Klopp hätte bis in alle Ewigkeiten den FC Liverpool trainieren können. Er schafft es, den traditionsreichen Klub seit seiner Ankunft als "The Normal One" im Oktober 2015 wiederzubeleben. Jede große Trophäe, mit Ausnahme der Europa League, gewann er mindestens einmal. Doch sein Einfluss reicht weit über die Grenzen von Anfield hinaus. Fans und Verein vergöttern ihren Coach. Ihren Ex-Coach. Sie lieben nicht (nur) seine Titel, sondern seine Intensität, seine Führungsqualitäten, seine Aura und Ausstrahlungskraft. Aber auch seine Jubelsprünge, Fehler, Launen und Wutausbrüche, die Klopp so menschlich und emotional wie wenige in der immer realitätsferneren Fußball-Welt erscheinen lassen.
Klopp singt: "Let's talk about six, baby"
Klopp gelingt in Liverpool etwas, das selbst Sir Alex Ferguson bei Manchester United und Pep Guardiola bei Manchester City nicht schafften: Wie kein anderer näht er über die Jahre ein Band der Einigkeit und Zuneigung zwischen sich, seinen Spielern und den Fans. Einen Reds-Anhänger zu finden, der etwas Negatives über den groß gewachsenen Deutschen zu sagen hat, dürfte ein hoffnungsloses Unterfangen sein.
Die Fans fühlen stets, dass Klopp einer von ihnen ist. Er macht sie glücklich. "He gets it". Er versteht uns, weiß, was wirklich zählt. Der Trainer spricht sich etwa gegen Liverpools Versuch aus, eine abtrünnige Super League zu gründen, er nimmt die Sorgen der Anhänger über ansteigende Ticketpreise ernst. Er setzt sich für die Fans ein, als diese für das Chaos vor dem Champions-League-Finale 2022 in Paris verurteilt werden - vielleicht gibt auch deshalb die UEFA später zu, dass es falsch war, die Liverpooler Fans für den verspäteten Anpfiff verantwortlich zu machen.
Nicht selten flitzt der Coach wie ein wildgewordenes Rumpelstilzchen an der Seitenlinie hoch und runter, lebt die Freuden und Frustrationen der Kinder, Frauen und Männer auf den Tribünen eine Etage tiefer aus. Bei Jubel-Orgien auf dem Rasen verlor er schon mal seinen Ehering und die (in den ersten Jahren) geliebte Brille. Als er 2019 die Champions-League-Trophäe in die Höhe recken darf, dichtet er kurzerhand den Song "Let's talk about sex" von Salt 'n' Pepa um in "Let's talk about six, baby" und trällert ihn in die TV-Kamera. Ein Seitenhieb auf seine Kritiker nach sechs verlorenen Endspielen in Serie und ein Jubel für den sechsten Königsklassen-Triumph des LFC - und ein musikalischer Grund, seine Vergötterung ins Unermessliche steigen zu lassen.
Pub-Erfahrung lässt Klopp lernen
Als die Reds im Derby gegen Everton Ende April auch die letzten Hoffnungen auf die Meisterschaft verspielen, hat Klopp keine Lust, sich am nächsten Tag im TV anzuschauen, wie Manchester City an seinem Team vorbeiziehen würde. Er sucht mit seinem Sohn den nächsten Pub auf. "In der Zeit, in der wir da waren, kamen 20 Leute, um sich zu bedanken", erzählt Klopp jüngst dazu. "Ich wollte mich für den Vorabend entschuldigen, weil ich weiß, was das für die Leute bedeutet. Aber die Antwort war: 'Nein, vergessen Sie das. Nein, nein, nein. Danke für das, was Sie getan haben.' Es ist verrückt, wie die Menschen in Liverpool sind. Das ist genau das, was ich hier gelernt habe."
Auf seiner letzten Pressekonferenz vor dem Spiel gegen die Wolves gibt Klopp zu, dass er seine innige Verbindung zu den Fans "nicht richtig verstehen" kann. So ist das mit der unergründbaren Liebe. Unzählige Briefe habe er in den vergangenen Wochen und Monaten erhalten, erzählt der Coach weiter: "Bei einem davon bin ich in Tränen ausgebrochen. Es ist einfach nicht möglich, die Geschichten hinter dem zu erahnen, was es für die Menschen bedeutet hat und was wir in diesen neun Jahren getan haben und wie sich ihr Leben in diesen neun Jahren verändert hat. Ich weiß, dass der Fußball das bei den Menschen bewirken kann und was der Fußball das bei einer Stadt bewirken kann, und das haben wir getan." Genau für solche emotionalen Aktionen und offenen Worte lieben sie ihren Kloppo.
Klopp wird in der Stadt, die ihn vor fast einem Jahrzehnt herzlich aufnahm, nicht als nur als Teammanager verehrt, sondern als Mensch. Liverpool liegt direkt an der Mündung des Flusses Mersey, war als Hafen- und Industriestandort lange als Motor der britischen Wirtschaft und Arbeiterstadt. Dort herrschen Werte wie Solidarität, Leidenschaft und Hingabe. Klopp, als Spieler wie als Trainer stets Malocher, war immer mit Herz und Seele bei der Sache. Er verdiente sich Respekt und Liebe durch ehrliche Ansagen, eine gewisse Demut und Integrität.
"Boom": Klopps Powerfußball
Als der LFC im März 2020 kurz davorsteht, den ersten Meistertitel seit 30 Jahren zu holen, bricht die Corona-Pandemie aus. Der Fußball steht still, viele auf der leiden aus weitaus ernsteren Gründen. Klopp erklärt, Fußball sei in jenem Moment "überhaupt nicht mehr wichtig" und zeigt seine soziale Seite: "Natürlich wollen wir nicht vor einem leeren Stadion spielen und wir wollen auch nicht, dass Spiele oder Wettbewerbe unterbrochen werden. Aber wenn dies dazu beiträgt, dass ein Einzelner gesund bleibt - nur ein Einzelner - dann tun wir das, ohne Fragen zu stellen." Sein deutlicher und lauter Einsatz für das Wohl der Gesellschaft über den Fußball berührt auf der Insel viele und ist ein Vermächtnis, das weit über den Fußball hinaus geht.
Liverpudlians werden ihren noch ungeborenen Kindern aber natürlich auch von den sportlichen Erfolgen der Ära Klopp erzählen, der diesen Verein geprägt hat wie vielleicht nur Trainerlegende Bill Shankly, Spieler und Coach Kenny Dalglish und Mittelfeldikone Steven Gerrard vor ihm. Auf ewig im Kopf bleiben wird vor allem der unverfrorene, aggressive Powerfußball mit Gegenpressing, den Klopp seinem Team von Anfang an einimpft. Der für so viel Freude und unvergessliche Momente bei den Fans sorgt.
Als seine Reds nur wenige Monate nach seinem Debüt Manchester City mit 3:0 überrennen, beschreibt der Premier-League-Frischling den Erfolg mit einem einzigen Wort: "Boom!" Der Fußball, den der LFC spielt, ist fast immer mitreißend, aufregend, pulsierend und atemberaubend. Liverpool ist wieder wer, Liverpool wird dank Klopp wieder hip in Europa. In dieser Zeit werden Mohamed Salah, Virgil van Dijk, Alisson Becker, Trent Alexander-Arnold und viele andere auch wegen ihres Trainers, der immer wieder auf junge Spieler setzt, zu Vereinslegenden.
"Die Zeit war großartig"
Dann beendet Klopp 2020 das lange und mühsame Warten der Reds auf einen Meistertitel, nachdem man ein Jahr zuvor knapp an Dauerkonkurrent City, ohne den die Ära wohl noch erfolgreicher ausgefallen wäre, scheiterte. Ein Jahr zuvor gelingt der erste Triumph in der Champions League seit 2005, nachdem man im Jahr davor das Finale gegen Real Madrid verloren hatte. Auf dem Weg ins Endspiel scheint im Halbfinale Schluss zu sein, nachdem Lionel Messis FC Barcelona im Camp Nou mit 3:0 gewann. Aber im Rückspiel schlägt Klopps Mannschaft so eindrucksvoll mit 4:0 zurück, dass der wohl spektakulärste Abend in der langen Geschichte des FC Liverpool in europäischen Wettbewerben gefeiert wird. Und die Partie zeigt wie keine andere die enorm inspirierende Qualität des Coaches, die bei den Reds weiterleben wird: Den Glauben niemals zu verlieren.
Auch im Moment seines bis dato größten Triumphes zeigt Klopp Herz. Nach dem Sieg gegen Tottenham Hotspur im Endspiel der Königsklasse tröstet er zunächst sein Gegenüber, wirft dann seiner Familie auf der Tribüne einen Kuss zu und umarmt anschließend Gegner und die eigenen Spieler. "Abschied nehmen ist nie schön, aber Abschied nehmen, ohne traurig oder verletzt zu sein, das hätte bedeutet, dass die Zeit nicht gut war", sagt Klopp nun, fünf Jahre nach dem großen Erfolg. "Die Zeit war großartig."
Jürgen Klopps Zeit beim FC Liverpool ist nun vorbei. Und doch endet sie nie.
Ach Kloppo.
Quelle: ntv.de