Liverpool-Stimme George Sephton "Klopp steht auf einer Stufe mit dem Größten"
31.12.2020, 08:50 Uhr
Längst eine Legende in Liverpool.
(Foto: imago images/Xinhua)
George Sephton ist in seiner 50. Saison Stadionsprecher an der Anfield Road. Im Interview spricht er mit ntv.de über die langersehnte Meisterschaft des FC Liverpool, über Fußball ohne Zuschauer, über Tormusik - und über Jürgen Klopp.
ntv.de: Mr. Sephton, was sehen Sie, wenn Sie auf 2020 zurückschauen? Die Corona-Pandemie - oder Liverpools erste Meisterschaft seit 30 Jahren?
George Sephton: Es war natürlich toll, dass wir den Titel gewonnen haben, aber er wurde uns verdorben. Die Menschen in Liverpool konnten nicht richtig feiern. Der Verein hat Millionen Fans auf der ganzen Welt, aber als wir den Meisterpokal bekommen haben, waren nur rund 300 Menschen im Stadion in Anfield. Ich war einer davon. Ich habe mich sehr privilegiert gefühlt.
Sie sind seit fast 50 Jahren Stadionsprecher und DJ an der Anfield Road. In diesem Jahr musste das Stadion bei vielen Spielen leer bleiben. Wie war das?
Seltsam, wie in einem verrückten Traum. Anfield ist ein wunderbarer Ort, wenn es voll ist, mit mehr als 50.000 Zuschauern. Dann zittert der Beton. Zuletzt durften immerhin 2000 Fans zu unseren Heimspielen kommen. Ich war davon am Anfang nicht überzeugt. Mir wäre es lieber gewesen, wenn der Verein gewartet hätte, bis wir das Stadion wieder komplett voll machen dürfen. Ich hätte nicht gedacht, dass es mit 2000 Zuschauern funktioniert. Aber das tut es. Sie machen unglaublich viel Lärm, viel mehr, als ich mir hätte vorstellen können. Ich hoffe einfach, dass wir in dieser Saison noch ein Spiel vor vollem Haus erleben. Auch wenn es nur ein einziges ist.
Warum ist Ihnen das so wichtig?
Ganz einfach. Dies ist meine 50. Saison. Es könnte meine letzte sein, das habe ich noch nicht entschieden. Aber ich will meinen Abschied auf jeden Fall in einem vollen Stadion geben. Am liebsten wäre es mir natürlich, wenn wir dann eine Trophäe gewinnen würden - vor allen unseren Fans. Ich will nicht noch einmal Meister ohne Zuschauer werden.
Anfield gilt als besonderes Stadion. Aber wenn es leer ist, ist es auch nur ein Gebilde aus Stahl und Beton?
Ja, das ist so. Es fehlt das Wichtigste, nämlich die Fans. Trotzdem ist der Ablauf vor den Spielen immer der gleiche, auch ohne Zuschauer. Seit dem Neustart des Fußballs haben wir versucht, den Spieltag so normal wie möglich zu gestalten. Vor dem Anpfiff spiele ich natürlich "You'll Never Walk Alone", wie immer. Das hilft den Spielern. Sie brauchen solche Routinen. Fußballer sind manchmal seltsame Menschen. Im leeren Stadion muss ich das Lied natürlich etwas leiser spielen, sonst bluten einem die Ohren.
Neuerdings gibt es in Anfield eine Torhymne, nämlich "Song 2" von Blur, wie beim FC St. Pauli. War das Ihre Idee?
Nein, ich wusste von nichts. Was passiert ist, ist Folgendes: Vor dem ersten Heimspiel nach dem Lockdown bekam ich einen Anruf. Man sagte mir, dass der Verein entschieden hätte, nach jedem Tor dieses Lied zu spielen. Ich konnte es nicht glauben. So was hat Liverpool noch nie gemacht!
Warum braucht Anfield Tormusik?
Das habe ich mich auch gefragt. Mir war immer klar: Wenn wir mit so was anfangen, bin ich raus. Als wir wieder ein paar Zuschauer zulassen durften, habe ich dem Verein gemailt: Bitte sagt mir, dass wir diesen Unsinn mit der Tormusik künftig nicht mehr machen. Es hätte sonst einen Fan-Aufstand gegeben. Der Klub hat beschlossen, dass ich recht habe. Die Tormusik wird jetzt nicht mehr gespielt. Dazu habe ich meinen Beitrag geleistet.
Wer auch seinen Beitrag geleistet hat, ist Trainer Jürgen Klopp. Ist er mit dem Gewinn der Meisterschaft endgültig eine Liverpool-Legende?
Ja, absolut. Er steht auf einer Stufe mit dem Größten, den wir je hatten, nämlich mit Bill Shankly...
... Liverpools schottischer Trainer-Ikone aus den 60ern und frühen 70ern.
Vom Charisma und der Persönlichkeit sind sich die beiden sehr ähnlich. Der einzige Unterschied ist vielleicht: Shankly hat hier alles gestartet. Er hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Als er kam, waren wir ein zweitklassiger Klub, wir spielten in der 2. Liga. Er hat uns in die First-Division und zu mehreren Meisterschaften geführt.
Vor dem Stadion steht heute eine Shankly-Statue. Auf dem Sockel heißt es: Er machte die Menschen glücklich. Das lässt sich auch über Klopp sagen.
Absolut. Auch er hat den Verein auf ein anderes Level gehoben. Und auch ihm ist es wichtig, mit den Fans zu interagieren. Er wohnt in Formby, einem kleinen Ort an der Küste, nördlich von Liverpool. Dort hat der Jugendfußball eine große Tradition. Ich höre so viele Geschichten davon, wie die Eltern an der Seitenlinie ihren Kindern zuschauen - und plötzlich steht Klopp mit seinem Hund neben ihnen, hält Small Talk über das Wetter, erkundigt sich nach dem Spielstand oder sagt: Die Nummer 9 ist gut. Es gibt so viele Trainer und Fußballer, die sich von den normalen Menschen fernhalten. Jürgen ist anders. Das kommt in Liverpool gut an.
In Deutschland wird spekuliert, dass Klopp irgendwann die Nationalmannschaft übernehmen könnte. Das kann Ihnen nicht gefallen. Sie wollen ihn sicher so lange wie möglich behalten.
Sein Vertrag hier in Liverpool läuft bis 2024, und er hat gesagt, dass er ihn erfüllen will. Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln. Er hat sicher noch genug Motivation. Er will zeigen, dass der Titel in diesem Jahr keine einmalige Sache war. Er will den Erfolg wiederholen.
Wie wichtig ist Ihnen das? Die Erleichterung nach der ersten Meisterschaft nach 30 Jahren war riesig. Man könnte meinen, das reicht für eine Weile.
Oh nein. Wir haben eine psychologische Barriere durchbrochen. Wir haben es endlich wieder geschafft, Meister zu werden. Jetzt ist es wichtig, dass wir das Beste aus der Zeit mit Jürgen machen. Mit unserem nächsten Titel würden wir mit Rekordmeister Manchester United gleichziehen. Und dann bräuchten wir noch einen, um wieder alleiniger Rekordmeister zu werden - so, wie es in der Vergangenheit war.
Das ist ein klarer Arbeitsauftrag an Jürgen Klopp.
Wir müssen einfach die Zeit nutzen, die er hier ist. Aber es ist auch klar, dass er sicher irgendwann nach Deutschland zurückkehren möchte. Mir schreiben auch viele Leute: George, geh noch nicht! Bleib noch ein paar Jahre! Aber irgendwann wird bei mir der Punkt kommen. Und bei Jürgen ist es genau so.
Mit George Sephton sprach Hendrik Buchheister.
Quelle: ntv.de