Sechs Lehren der EM-Qualifikation Löw vertröstet, Boateng bettelt, Kroos spaltet
15.10.2014, 12:53 Uhr
Es läuft reichlich bescheiden für die deutsche Elf. Joachim Löw versucht dennoch zu beschwichtigen.
(Foto: imago/Avanti)
Als Gruppenvierter läuft für die DFB-Elf in der EM-Qualifikation nicht alles nach Wunsch, die Statistik ist grotesk. Der Bundestrainer gelobt Besserung, Jérôme Boateng bewirbt sich um einen Führungsposten.
1. Krise? Nein! Doch! Oh!
Der deutsche Fußball steckt in der Krise. Oder? Nein? Doch! Oh! Wir fassen das mal zusammen: Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft will sich für die Europameisterschaft 2016 qualifizieren. Auf dem Weg nach Frankreich verliert sie erst in Polen und spielt nun gegen Irland unentschieden. Hinterher sagen die Spieler und der Bundestrainer, dass eigentlich alles in Ordnung sei. Nur das mit dem Toreschießen habe halt nicht so gut geklappt. Aber das werde schon. Die Gegner, vor allen die Polen am Samstag und erst Recht die Iren gestern seien aber auch extrem defensiv zu Werke gegangen. Das Problem ist, dass sich das in absehbarer Zeit nicht ändern wird. Schließlich geht es gegen den Weltmeister.
Den Gefallen, gegen die DFB-Elf mitspielen zu wollen, wird ihr in dieser Gruppe D keine Mannschaft machen, nicht die Schotten, nicht die Polen, nicht Iren - und erst Recht nicht die Georgier und die Gibraltarer. Joachim Löw sagte gestern in Gelsenkirchen: "Enttäuscht sind wir alle. Gegen Gibraltar werden wir jetzt gewinnen und im nächsten Jahr dann wieder zurückschlagen." Das mit Gibraltar glauben wir gerne. Ansonsten aber sollte sich die deutsche Mannschaft etwas einfallen lassen, wie sie auch Gegner knacken kann, die sich mit einer Sechster-Abwehrkette präsentieren. "Das ist auch wirklich nicht einfach", sagte Mats Hummels. Vielleicht nicht stets ideenlos durch die Mitte spielen? Und sie sollte sich überlegen, wie sie, wenn sie denn mal führt, diesen Vorsprung auch über die Zeit bringt. Jedenfalls nicht so, wie in der Gewächshausatmosphäre auf Schalke. Torhüter Manuel Neuer brachte es auf den Punkt: "Wir waren mutlos und haben uns versteckt." Das gibt zu denken, eine Krise aber ist das nicht.
Tore: 1:0 Kroos (71.), 1:1 O'Shea (90.+4)
Deutschland: Neuer - Rüdiger, Boateng, Hummels, Durm - Ginter (46. Podolski), Kroos - Bellarabi (87. Rudy), Götze, Draxler (70. Kruse) - Thomas Müller
Irland: Forde - Meyler, O'Shea, Wilson, Ward - McGeady, Whelan (54. Hendrick), Quinn (76. Hoolahan), McClean - Walters - Keane (63. Gibson)
Referee: Skomina Zus: 51.204
Schüsse: 23:4 Ecken: 9:1 Ballbes: 63:37
Das Spiel im Liveticker nachlesen
2. Der DFB hat ein Zuschauer-Problem
51.204 Fans schauten sich ein Gelsenkirchen den Auftritt der Nationalmannschaft an. Mit einer Choreographie feierten sie den vierten Stern – in der Nordkurve. Über das gesamte Stadion hätte man die Choreographie nicht verteilen können, dafür klafften zu viele Löcher. Gut 3000 Plätze blieben leer. Und das, obwohl sich 13 Weltmeister die Ehre gaben. Gut, es war eben nur Irland, könnte man einwenden. Aber in der Frankfurter Fleckschneise machen sie sich so ihre Gedanken. Der "Berliner Zeitung" teilte der DFB mit, man wolle sich mit diesem Thema befassen. "Wir haben ein Interesse daran, dass die Nationalmannschaft vor vollen Rängen spielt." Fragt sich nur, warum sie dann immer in so großen Stadien spielt – auch gegen kleine Gegner. Denn die Euphorie um die Weltmeister, sie existiert, aber sie zeigt sich eben eher bei den Trainings und den öffentlichen Auftritten. Die sind umsonst. So ein Spiel gegen Irland kostet pro Ticket 25 bis 100 Euro. Das wird schnell teuer, gerade für Familien. Wenn man die Kinder denn überhaupt ins Stadion mitnehmen will, denn die Anstoßzeit um 20.45 Uhr passt auf die Bedürfnisse der Fernsehanstalten, nicht auf die der Fans, die ins Stadion gehen wollen. Hundert Euro weg, stundenlang im Stau, mitten in der Woche nach Mitternacht zu Hause, und das alles für ein Spiel gegen Irland. Erstaunlich genug eigentlich, dass 50.000 Menschen das mitmachen. Das nächste Spiel findet übrigens in Nürnberg statt. Das Stadion fasst 44.308 Zuschauer. Der Gegner heißt Gibraltar. Tickets sind dem Vernehmen nach noch reichlich vorhanden.
3. Auch 52:9 Torschüsse reichen zu keinem Sieg
Die deutsche Mannschaft hat erstmals seit 2007 in zwei Pflichtspielen hintereinander nicht gewonnen. Das ist also eine echte Rarität. Spätestens jetzt weiß auch der Bundestrainer, dass es nicht reicht, den Ball so oft wie möglich den Ball in Richtung des gegnerischen Tores zu schießen. Ein paar Zahlen gefällig? Selbst wenn nicht, hier sind sie, erst einmal die Bilanz der Spiele gegen Polen und Irland: 52:9 Torschüsse, 1:3 Tore, ein Punkt. Das ist durchaus ausbaufähig. Zählt man den 2:1-Sieg zum Auftakt gegen Schottland mit, gab die DFB-Elf mit 77 Versuchen bisher die meisten Torschüsse aller Teams in dieser EM-Qualifikation ab. Das ergibt eine Chancenverwertung von 5,6 Prozent. Das ist durchaus fahrlässig. Zum Thema Effizienz lohnt sich ein Blick auf die Bilanz der deutschen Gegner. Schotten, Polen und Iren brachten zusammen nur sieben Schüsse aufs deutsche Tor, erzielten aber vier Tore. Das ist durchaus beachtlich. Und doch ist für das Löw’sche Team in dieser Gruppe D weiterhin fast alles in Ordnung, wir können es gar nicht oft genug wiederholen. Ja, Deutschland steht auf Platz vier. Aber Tabellenführer Polen ist nur drei Punkte entfernt. Für die EM qualifiziert sich der Gruppenerste. Es qualifiziert sich der Gruppenzweite. Und es qualifiziert sich der auch Dritte, wenn er die meisten Punkte aller Drittplatzierten hat. Falls nicht, darf er noch zwei Ausscheidungsspiele gegen einen anderen Gruppendritten absolvieren. Noch Fragen?
4. Boateng bewirbt sich als Führungsfigur
Auf dem Platz ist er ruhig, souverän, stets am rechten Platz und Herr der Lage im Inneren der Verteidigung. Aber auch abseits des Rasens arbeitet Jérôme Boateng daran, dass Vakuum an Führungsstärke zu füllen, dass die emeritierten Kollegen Per Mertesacker, Miroslav Klose und vor allem Philipp Lahm hinterlassen haben. Zumal Bastian Schweinsteiger, der neue Kapitän, seit dem WM-Finale keinen Fußball mehr gespielt hat - und das bis auf Weiteres auch nicht tun wird. Abseits des Platzes tritt dieser Boateng zwar leise auf, aber bestimmt. Und er hat etwas zu sagen. Von fehlender körperlicher wie geistiger Frische, die der Bundestrainer einigen seiner Brasilienfahrer attestierte, ist bei ihm nichts zu merken. Bereits nach der Niederlage in Warschau hatte er ungewohnt scharf gefordert, dass er und seine Kollegen "absolut kritisch" mit ihrer schlechten Chancenverwertung umgehen müssten. Im Keller des Gelsenkirchener Stadions legte er nun am Dienstag nach: "Ich hoffe, dass spätestens jetzt alle wach sind." Die deutsche Elf habe in der Nachspielzeit gegen die Iren förmlich um den Ausgleich gebettelt. "So ein Spiel müssen wir über die Zeit bringen, da darf man nicht einfach ein Tor kassieren." Problem erkannt, Problem gebannt? Boateng kümmert sich drum.
5. Die Iren müssen unbedingt zur EM
Die Nationalmannschaft und die Fans, das ist ohnehin eine schwierige Geschichte. Zuletzt pfiffen die Anhänger Mario Gomez aus und kassierten dafür einen Rüffel von Bundestrainer Löw. DFB-Präsident Wolfgang Niersbach versuchte es im Stadionheft mit umgekehrter Psychologie. Er lobte die irischen Fans über den, Verzeihung, aber es passt so gut: grünen Klee. Spielstand egal, "die 'Green Army' steht hinter ihrem Team." Kleiner Wink ans Eventpublikum. Das wurde nach einer Viertelstunde ruhig, es gab ja auch wenig zu sehen. Dafür zu hören: Die mehr als 4000 irischen Fans sangen inbrünstig wie gewohnt, natürlich das mittlerweile zum Klassiker geratene "Fields of Athenry". Sehr schön aber auch die Version des Depeche-Mode-Hits "Just can't get enough". Wie schön es doch gewesen wäre, hätten die deutschen Fans einfach mitgesungen. So blieb die Partystimmung auf den Gästeblock begrenzt. Noch lauter und wilder erschallte der Torjubel in der 94. Minute und das "You'll never beat the Irish" nach dem Schlusspfiff. Wenn es nach uns geht, muss die deutsche Elf die Iren auch im Rückspiel nicht schlagen - falls das dann bedeutet, dass diese Fans zur EM nach Frankreich fahren dürfen.
6. Kroos hat zwei Gesichter
Der Sportinformationsdienst kürte Toni Kroos zu seinem Mann des Spiels. Dafür gibt es gute Argumente: Ein Tor, erzielt mit Raffinesse und überragender Präzision. Die meisten Ballkontakte im Spiel, 138 an der Zahl. Und punktgenaue Flankenwechsel, an die man sich schon so gewöhnt hat, dass auf der Pressetribüne einige Journalisten raunten, als Julian Draxler tatsächlich einmal hochspringen musste, um einen weiten Ball von Kroos anzunehmen. Am Ende erreichten 92 Prozent seiner Pässe den Mitspieler. Der Bundestrainer verteilte ein Sonderlob: "Er ist in überragender Form, macht fast alles richtig." Aber dieses "fast" trug dazu bei, dass der DFB-Elf in den letzten Minuten das Spiel entglitt. Zwei Fehlpässe unterliefen dem Madrilenen ausgerechnet in dieser wichtigen Phase. Damit taugt Kroos auch zum Buhmann des Spiels. "Wenn wir 100 mal den Ball verlieren, kann das nichts werden", schimpfte Innenverteidiger Boateng, und er dürfte damit auch Kroos gemeint haben. In der zweiten Hälfte bekam die Verteidigung ohnehin wenig Unterstützung aus dem defensiven Mittelfeld, wo Kroos zwar seine Kreise zog und den Ball verteilte - aber defensiv wenig Präsenz zeigte. In der ersten Halbzeit sekundierte Matthias Ginter und stopfte die Lücken, was selten nötig war, weil Irland schlicht nicht angriff. Als sie es taten, versteckte sich Kroos wie so viele seiner Kollegen. Kroos' unbestreitbare Klasse macht ihn unverzichtbar - genauso unverzichtbar ist allerdings ein starker Zweikämpfer an seiner Seite. Einer wie Sami Khedira zum Beispiel.
Quelle: ntv.de