Jahr des Wahnsinns für DFB-StarMein Gott, Woltemade!
Nick Woltemade trifft und trifft und trifft. Vor gut zwei Jahren kickt der DFB-Stürmer noch in der dritten Liga, nun soll er Deutschland zum WM-Titel schießen. Der Aufstieg des neuen Heilsbringers raubt Fußballfans den Atem.
Nur ein Jahr vor seinem ersten Länderspiel wird er Oberliga-Meister, kurz zuvor kickt er noch in der Bezirksliga. Dann folgt ein Aufstieg, der sogar den Halleyschen Kometen erblassen lässt vor Neid. Die Rede ist von Miroslav Klose, der 2001 für die deutsche Nationalelf debütiert und direkt den Siegtreffer gegen Albanien erzielt, es ist ein Flugkopfball auf Grashalmhöhe, wo jeder andere den Fuß hingehalten hätte. Ein gutes Jahr später bei der WM in Japan und Südkorea köpft er fünfmal ins Netz und wird Vizeweltmeister.
Der Rest ist eine einzigartige Geschichte. Und doch scheint Nick Woltemade dieser Tage Klose zumindest vom Aufstieg her nachzueifern. Auch der 23-Jährige spielt vor zwei Jahren noch in der Dritten Liga und verhilft als Leihspieler von Werder Bremen der SV Elversberg mit zehn Toren und neun Vorlagen zum Aufstieg.
Heute, nach vier Treffern in der WM-Qualifikation und dem gelösten WM-Ticket, nach einem weiteren famosen Auftritt im Nationaltrikot, gilt der DFB-Youngster bereits als eine Art Heilsbringer für eine gesamte Fußball-Nation. Zwar ist wenig Zeit vergangen, doch das vergangene Jahr des Nick Woltemade ist selbst im für Übertreibungen und Überspitzungen bekannten Fußball-Business verrückt.
Woltemade: "Wenn man das nur erklären könnte"
Nach dem elektrisierenden 6:0 (4:0)-Sieg gegen die Slowakei wird Woltemade gleich als erster ans ZDF-Mikrofon gerufen. Der Stürmer ist - mit Verlaub - der heiße Scheiß. Unbekümmert plauscht er drauf los, lobt die Kreativität und Aktivität in einem "richtig guten Spiel". Doch als er bei der nächsten Frage erklären soll, wie es dazu kam, dass er nun sein viertes Tor in drei aufeinanderfolgenden Partien erzielt hat, wird selbst der 198-Zentimeter-Riese kleinlaut. "Wenn man das nur erklären könnte", sagt er, "ich weiß es auch nicht".
Sein sensationeller Werdegang schockt sogar Woltemade selber. "Ich kann es gar nicht beschreiben. Ich bin jetzt ganz oben angekommen und fahre zu einer WM", lacht er. Und fügt noch schnell hinzu: "Hoffentlich." Mit einem Strahlen in den Augen, das eigentlich Kindern an Weihnachten vorbehalten ist.
Das "hoffentlich" kann der Angreifer getrost streichen. Denn die wichtigste Erkenntnis aus der WM-Quali lautet: Deutschland hat wieder einen Top-Stürmer, der verlässlich trifft. Vielleicht sogar einen von baldigem Welt-Format?
Gegen die Slowakei sorgt Woltemade für den wichtigen Dosenöffner, zum dritten Mal in Folge erzielt er das 1:0 für Deutschland. Noch beeindruckender ist, dass er kurz zuvor zu Kapitän Joshua Kimmich gestikuliert, wie dieser die Flanken zu schlagen hat. Gezeigt, geflankt, getroffen. Und wie gegen Nordirland im Oktober trifft er per Kopf. Daran sieht man, wie akribisch Woltemade an seinem Spiel arbeitet. Beim VfB Stuttgart erzielte er nur ein Kopfballtor in der gesamten vergangenen Saison, bei Newcastle United trifft er in den ersten vier Spielen gleich zweimal mit dem Schädel.
An vier der sechs DFB-Tore beteiligt
Aber der Wahnsinns-Woltemade hat auch Spielmacher-Qualitäten à la Harry Kane und spielt kurz nach seinem Slowakei-Tor einen tollen Pass auf Serge Gnabry, der beinahe zum 2:0 führt. Wenig später stellt er den Körper robust gegen einen Gegenspieler rein und ermöglicht damit Florian Wirtz die Vorlage zum 4:0. Mit seinen langen und doch schnellen Beinen initiiert er auch das fünfte deutsche Tor. Kurz vor dem Abpfiff ist er zudem Teil der wunderbaren Kombination, die den sechsten Treffer bringt. An vier der sechs Tore ist der Stürmer beteiligt, wo soll das noch hinführen?
Wird Woltemade im Juni noch in das DFB-Team geworfen, weil Bundestrainer Julian Nagelsmann aufgrund vieler verletzter Spieler keine Alternativen bleiben, so hat er sich jetzt festgespielt und ist aus der Mannschaft schon nach wenigen Partien nicht mehr wegzudenken. Auf einmal ist der blonde Lockenkopf die vielleicht größte WM-Hoffnung Deutschlands. Innerhalb weniger Monate mutiert er zum neuen Talisman in einer von Verletzungen durchzogenen deutschen Mannschaft.
So etwas hat Deutschland noch nicht gesehen, noch vor einem Jahr hätte diesen Aufstieg niemand erwartet. Wo nämlich Klose nicht nur Tore am Fließband in der Oberliga schießt, sondern anschließend auch in der Profimannschaft des 1. FC Kaiserslautern knipst, da klemmt es bei Woltemade lange im Oberhaus. Nachdem er 2020 bereits mit 17 Jahren sein Profi-Debüt für Werder gibt, kehrt er nach der Elversberg-Leihe 2023 zurück an die Weser und darf in 30 Bundesligaspielen 18-mal von Beginn an ran. Die magere Ausbeute: zwei Treffer am allerletzten Spieltag.
Der Stürmer, den Deutschland gebraucht hat
Woltemade wechselt, zur Trauer der Werderaner, im Sommer 2024 ablösefrei zum VfB. Doch auch im Ländle glauben sie nicht an einen Kometen-Aufstieg, melden den Youngster vor einem guten Jahr nicht mal zur Champions League an. Diese Aufgabe wird damals als noch zu groß für den großgewachsenen Stürmer angesehen.
Und nun soll er die DFB-Elf zum WM-Titel schießen. Als 23-Jähriger mit acht Länderspielen, als Sturm-Retter der Nation. Woltemade ist der Stürmer, den Deutschland gesucht und gebraucht hat. Mit dem hoffentlich bald genesenen Jamal Musiala und dem hoffentlich bald zur Form Leverkusener Tage zurückfindenden Florian Wirtz, beide 22 Jahre alt, ein Heilsbringer-Triumvirat bilden, das mitunter gruselige Auftritte der Nationalelf in der WM-Quali vergessen macht. Drumherum wirbeln die gegen die Slowakei ebenfalls so starken Serge Gnabry und Leroy Sané.
Denn Fakt ist: Egal, wie gut die anderen Mannschaftsteile liefern, es braucht einen funktionierenden Stürmer, wie Deutschland ihn bei den vier WM-Titeln immer hatte. Das ist auch im hochmodernen Schnelligkeitsfußball so, siehe Kane, Erling Haaland und Kylian Mbappé. Dass sich das Anforderungsprofil an einen Angreifer über die Jahre verändert hat, ist gar nicht schlecht für Woltemade, der kein klassischer Strafraumwühler à la Gerd Müller ist, sondern sich gerne fallen lässt und mit seinem für seine Körpergröße herausragenden Ballgefühl am Spielaufbau teilnimmt oder den Ball hält für heransausende Teamkollegen.
Dass die Langzeitverletzten Niclas Füllkrug oder Tim Kleindienst ihm die Rolle in der Startelf streitig machen, erscheint unwahrscheinlich. Kai Havertz ist dafür eher ein Kandidat, aber wann und wie der Arsenal-Stürmer von seiner Knie-OP zurückkommt, bleibt unklar.
Woltemades Tore als vergoldete Hoffnung
Apropos England: Auch dem großen Druck seines hohen Preisschilds und der Intensität des schnellen Spiels der Premier League hat Woltemade innerhalb dieser Monate des Wahnsinns eiskalt getrotzt - anders als etwa Wirtz oder Havertz. Nachdem ihn bei seinem neuen Klub Newcastle United anfangs noch Krämpfe zur Auswechslung gezwungen hatten, ist er mittlerweile zu einem Fan-Liebling aufgestiegen, wozu etwa auch dieses Hacken-Tor beitrug, und hat gleich noch einen kleinen Vereinsrekord eingestellt: Nach den Klub-Legenden Les Ferdinand und Alan Shearer wurde der Deutsche zum erst dritten Newcastle-Spieler, der an seinen ersten drei Heimspielen jeweils einen Treffer erzielte.
Woltemades Tore in Newcastle sind mehr als schiere Treffer. Sie sind Signale, dass der Scheich-Klub mit dem 90-Millionen-Glückspiel alles richtig gemacht hat. Seine Tore für Deutschland sind wiederum vergoldete Hoffnung. Auf eine erfolgreiche WM. Vielleicht sogar auf den fünften Stern.
Auch damals, 2001 mit dem unbekümmerten Heislbringer-Debütanten Klose, rumpelt die DFB-Elf wie vor wenigen Tagen gegen Luxemburg. "Immerhin zehn ordentliche Minuten", titelt "Spiegel Online" zum mauen 2:1-Sieg gegen Albanien. "Diese Leistung sollte uns zu denken geben", sagt Kloses Stürmerkollege Oliver Bierhoff. Ein gutes Jahr später steht Deutschland im WM-Finale und unterliegt Brasilien nur, weil Oliver Kahn ein einziges Mal Schwächen zeigt und Ronaldo eben Ronaldo-Dinge tut.
Il Fenomeno spielt schon lange nicht mehr und so tut vielleicht Nick Woltemade bei der WM Woltemade-Dinge. Diese sind kaum erklärbar. Und überaus erfolgreich.
