Nicht nur Klopp ist verzücktNagelsmanns "rosafarbene Tiere" schaffen etwas Besonderes
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft löst im letzten Spiel das Ticket für die Weltmeisterschaft im nächsten Jahr. Die Elf von Bundestrainer Julian Nagelsmann zeigt gegen die Slowakei eine besondere Leistung.
Ein ganzes Fußballspiel lässt sich manchmal auf eine Szene herunterbrechen. Sie beginnt unscheinbar: In der 15. Minute kullert der Ball irgendwo in der slowakischen Hälfte Richtung Seitenaus. Die meisten der 40.120 Menschen im Leipziger Stadion haben das Spielgerät schon abgeschrieben. Einer nicht: Joshua Kimmich. Der DFB-Kapitän sprintet los, er grätscht einen Slowaken mit Anlauf und Wucht an der Seitenlinie weg - und holt sich den Ball zurück. Er schlägt eine Flanke, sie kommt an, aber Florian Wirtz vergibt die Torchance.
Es ist spätestens dieser Moment, der das Publikum darauf einstellt, dass an diesem Abend in der Heldenstadt Leipzig alles anders laufen wird als zuletzt. Mit Ach und Krach rumpelte sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft durch die WM-Qualifikation. Es war ohne Übertreibung ein wirklich grausiger Länderspielherbst. Die DFB-Elf war wieder einmal zum Sorgenkind geworden, mit schwachen Auftritten gegen Luxemburg und Nordirland. Und völlig überraschend gipfelt diese WM-Quali in diesem rauschenden Fußballfest, dem 6:0 (4:0)-Sieg im "Endspiel" gegen die Slowakei. Und der Starterlaubnis für das Turnier im nächsten Jahr.
Plötzlich steht da in Leipzig eine Nationalelf auf dem Platz, die wie ausgewechselt ist. Die Rückkehr der Mentalitätsmonster Kimmich und Nico Schlotterbeck macht einen Riesenunterschied. Vor drei Tagen war die DFB-Elf (ohne die beiden) noch vom luxemburgischen Druck überfordert, nun ist alles ganz anders. Auf einmal kämpfen die DFB-Protagonisten um jeden Ball, sind wieder giftig in den Zweikämpfen, aggressiv im Pressing, spielfreudig in den Kombinationen. Noch vor drei Monaten stürzten die Slowaken den deutschen Fußball mit ihrem 2:0-Sieg in eine mittelschwere Krise. Jetzt wird der Außenseiter schwindelig gespielt, dass er nicht mehr weiß, wie ihm geschieht. "Sie haben uns völlig zerstört", sagt der Slowake David Hancko später.
"Ordentlich Druck auf dem Kessel"
Dieses Spiel verändert etwas bei denen, die auf dem Platz stehen, und bei denen, die es mit dem DFB-Team halten. Es macht die ruckelige WM-Quali nicht unvergessen, aber: All die Last und Sorgen, die sich in den vergangenen Monaten angestaut haben, fallen schon in der 18. Minute ab. Wieder ist es Kimmich, der flankt. Und diesmal ist da Nick Woltemade in der Mitte. Völlig unbedrängt. Der 22-Jährige mit dem märchenhaften Aufstieg nickt den Ball ins Tor. Das Stadion in Leipzig hebt das erste Mal ab.
Und an der Seitenlinie? Da flippt Bundestrainer Julian Nagelsmann völlig aus. Er war derjenige, der in den vergangenen Wochen und Monaten viel Kritik einstecken musste - vieles auch zu Recht. Der DFB-Elf drohte die Peinlichkeit der WM-Playoffs. Und, viel schlimmer, es hätte passieren können, dass die bislang größte Weltmeisterschaft der Geschichte ohne den viermaligen Titelgewinner stattfindet - erstmals aus sportlichen Gründen. Es sei "ordentlich Druck auf dem Kessel gewesen", sagt Nagelsmann im Nachhinein. Dennoch verspüre er keine Genugtuung, sondern freue sich einfach. "Wenn ich sage, die Nationalmannschaft hat mit Herz zu tun, dann geht es nicht um mich, sondern um das Team als Ganzes, eben um ein Herzensthema", erklärt Nagelsmann.
Eben das ist es. Vielleicht erstmals seit der Heim-Europameisterschaft tritt die DFB-Elf wieder mitreißend auf. Sie löst wieder etwas bei den Protagonisten aus. Als Woltemades Kopfball ins slowakische Tor fällt, jubelt Nagelsmann, als hätte er den Treffer selbst erzielt. Es platzt aus ihm heraus: Der Bundestrainer rennt in seiner Coaching-Zone wie wild geworden los. Man erkennt den typischen Jubel von Cristiano Ronaldo, die Arme nach unten ausgestreckt und angespannt. Er ballt unzählige Male die Faust. Nagelsmann applaudiert immer noch, da haben sich die beiden Teams schon lange wieder zum Anpfiff aufgestellt.
"Oh, wie ist das schön"
Danach verfällt die DFB-Elf in einen Rausch. Zack, zack, zack. Der Ball wird in Windeseile hin und her gepasst. Es fällt ein Tor nach dem anderen, 2:0, 3:0, 4:0. Ausgerechnet Leroy Sané trifft doppelt, ausgerechnet Wirtz bereitet beide Tore vor. Und wie. Mit teilweise unfassbaren Pässen. Als wären Liverpool-Wirtz und DFB-Wirtz zwei verschiedene Personen. Nagelsmann steht an der Seite, applaudiert, ballt immer wieder die Faust, feuert das DFB-Team an. Er und seine Nagelsmannschaft kommen aus dem Jubeln nicht mehr heraus.
Aber nicht nur auf dem Feld passiert etwas Besonderes, sondern auch im Stadion. Deutsche Länderspiele sind nun wirklich nicht für ihre außergewöhnliche Stimmung bekannt. Doch ab der 41. Minute, nach dem vierten Treffer der DFB-Elf, entsteht etwas fast schon Magisches. Die Menschen singen "Oh, wie ist das schön" und man nimmt es ihnen ab. Weil sie als DFB-Fans so etwas ja wirklich lange nicht mehr gesehen haben. La-Ola-Wellen schwappen durch die Arena, begleitet von vorfreudigem Klatschen. Selbst Red-Bull-Fußballboss Jürgen Klopp schließt sich dem Schauspiel an.
Nichts deutete im Vorfeld darauf hin, dass sich so etwas entwickeln könnte. Wer zuvor in Leipzig unterwegs war, musste nach der großen Euphorie suchen. In der Stadt konnte man ein paar Menschen mit schwarz-rot-goldenen Fischerhüten beobachten, ein paar trugen noch ihre Schals. Auch auf dem Weg zum Spielort brach nicht die große Vorfreude aus. Es ist ein typischer Novemberabend: ungemütlich, keine fünf Grad, alle möglichen Regensorten fallen nacheinander vom Himmel. Das Stadion ist nicht ausverkauft, überall blitzen rote Sitzschalen heraus. Nicht die besten Bedingungen für eine Fußballgala.
"Eine tolle Frage" und jetzt der WM-Titel?
Und auch nach der rauschhaften ersten Hälfte setzt der Kater ein. Das Spiel flacht nach der Pause deutlich ab. Die Slowakei unternimmt keinerlei Bemühungen mehr, die Partie zu drehen. Und so kann das DFB-Team eifrig weiter kombinieren. Nagelsmann wechselt durch und sorgt damit für eine weitere besondere Geschichte: Der 19-jährige Assan Ouédraogo darf in seinem Heimstadion debütieren und erzielt 102 Sekunden später den 6:0-Schlusspunkt.
Am Ende bleibt vor allem eine Frage. Warum eigentlich nicht öfter so? Warum nicht schon in Luxemburg oder in Bratislava? Es ist schon spät geworden im Leipziger Stadion, da rätseln auch die Protagonisten vor der Busabfahrt. "Es gibt keine Erklärung, eigentlich versuchen wir, jedes Spiel so wie heute zu spielen", sagt etwa Bayern-Star Aleksandar Pavlović. Auch Dortmunds Schlotterbeck windet sich um eine eindeutige Analyse. Woran es gelegen hat? "Das ist eine tolle Frage. Woran es liegt, ist im Fußball manchmal schwer zu erklären." Stattdessen kehrt das DFB-Selbstbewusstsein zurück: Auf die Reporterfrage, was sie bei der WM nun erreichen wollen, stockt Pavlović kurz, lächelt und sagt einfach nur: "Gewinnen".
Das gehört eben auch zu dieser DFB-Elf: dass niemand genau weiß, was einen erwartet. Für die WM ist das gleichzeitig ein gutes und ein schlechtes Zeichen. Alles ist möglich, wenn alles passt. Nagelsmann hatte vor der WM-Qualifikation gesagt, er wolle die sechs Spiele beherrschen. Daraus ist nichts geworden. Stattdessen erkannte er, dass das Team bei Weitem noch nicht so gefestigt ist, wie er dachte. Der Bundestrainer stellte die Experimente ein und bot nun fast immer die gleiche Startelf auf. Dazu ist er nach wie vor abhängig von Unterschiedsspielern wie Kimmich und Schlotterbeck.
Immerhin, der Bundestrainer hatte eine Erklärung, weshalb gegen die Slowakei der Knoten platzte. "Jeder Spieler hat heute ein extrem gutes Spiel gemacht und gearbeitet wie das rosafarbene Tier. Wir haben fußballerisch super gut ins Spiel gefunden durch einen Rieseninvest in der Defensive", sagt Nagelsmann und meint die Malocherqualitäten von Schweinen. Kimmich pflichtet ihm bei. "Jeder wollte heute ein Zeichen setzen, jeder wusste genau, was auf dem Spiel steht." Und er ging als Kapitän voran, schon in der 15. Minute.
