"Wuchtiges" Schalke ohne Chance Moukoko lässt Gelbe Wand in Dortmund durchdrehen
18.09.2022, 08:30 Uhr
Youssoufa Moukoko jubelt, im Hintergrund lächelt eine Einsatzkraft. Beim Derby ist niemand neutral.
(Foto: IMAGO/kolbert-press)
Das Derby zwischen dem BVB und Schalke 04 ist das größte Spiel im deutschen Fußball. Es elektrisiert eine ganze Region, schreibt immer wieder neue Heldengeschichten. Nach langer Zeit darf jetzt wieder der schwarzgelbe Teil des Potts jubeln. Weil ein 17-Jähriger sich einen Traum erfüllt.
Als die Fans im Dortmunder Westfalenstadion sich langsam auf das erste 0:0 des BVB seit dem 26. Oktober 2019 einstellen, steigt Youssoufa Moukoko am langen Pfosten in die Luft und drückt eine Flanke von Marius Wolf über die Torlinie. Ein brutal lautes "Jaaaaa" aus über 70.000 Kehlen im mit 81.100 Zuschauern ausverkauften Stadion raubt den Gästen aus Schalke alle Hoffnungen auf einen unverdienten Punktgewinn. Nach einem kurzen Spurt in Richtung Eckfahne verschwinden die Augen des Stürmers. Er legt seinen Kopf zurück, breitet seine Arme aus und stimmt in den weltweit bewunderten "Westfalenstadion Roar" ein.
Moukoko kommt erst spät in die Partie, die der BVB von Anfang an dominiert. Doch nach den zwei Niederlagen gegen RB Leipzig und Manchester City droht auch gegen Schalke ein Punktverlust. Zwar kommen die Borussen gegen die unerfahrenen Rivalen immer wieder ins letzte Drittel, scheitern dort jedoch an fehlender Präzision. Der Noteinkauf Anthony Modeste ist nicht ins Spiel eingebunden, steht in der zweiten Halbzeit sogar kurz vor dem Platzverweis.
Bereits verwarnt, foult er den Schalker Keeper Alexander Schwolow. Schiedsrichter Felix Brych drückt ein Auge zu. Modestes Verpflichtung nach der Erkrankung des Rekordeinkaufs Sébastien Haller ist bislang ein großes Missverständnis. Der 34-Jährige ist nicht ins Spiel eingebunden, sorgt am Samstag für mehr Gefahr fürs Dortmunder Tor als die Sturmreihe der Gäste, die am Ende keinen einzigen Schuss aufs Tor von Alexander Meyer gebracht haben wird.
Simon Terodde, Dominick Drexler und Marius Bülter laufen verloren die Abwehr des BVB an. Dahinter klaffen große Lücken auf. Nur für ein paar Minuten in der ersten Halbzeit gelingt es den Schalkern den Ball in den eigenen Reihen zu halten. Ansonsten laufen sie ihm hinterher, verteidigen "wuchtig", wie Trainer Frank Kramer es später nennen wird. Es reicht für lange Zeit.
Niemand war jünger als Moukoko
Doch dann bringt BVB-Coach Edin Terzic Moukoko für den ehemaligen Kölner Modeste. Unter der Woche und noch kurz vor dem Spiel haben sie geredet. Der 17-Jährige, dessen Vertrag am Ende der Saison ausläuft, ist ungeduldig. "Ich bin reingekommen und hatte Wut im Bauch, weil ich von Anfang an spielen wollte, aber der Trainer hat entschieden, dass ich von der Bank reinkomme", sagt er später vor den Kameras. So spielt er auch. Er sorgt sofort für Wirbel. Wird von Rechtsverteidiger Thomas Meunier geschickt, klaut wenig später Gio Reyna den Ball, wirkt weiter unfertig, aber wird immer gefährlicher. In der 79. Minute trifft er.
"Es ist unfassbar. Ich habe davon geträumt", sagte er später vor den Kameras: "Jeden Tag habe ich mir in der Jugend vorgestellt und fantasiert, dass ich irgendwann mal vor der Südtribüne im Derby so ein Tor schieße. Dafür habe ich lange gearbeitet." Dabei ist das einstige Wunderkind weiterhin nur 17 Jahre alt. Mit nun sieben Treffern aus 36 Bundesliga-Spielen hält Moukoko einen weiteren Rekord. Er ist nicht nur der jüngste Spieler, der jemals ein Bundesliga-Tor erzielte, sondern auch der jüngste, der es auf sieben Tore in der Liga bringt. Viele weitere werden folgen.
Nichts aber wird dieses eine, das erste Tor im Derby, ersetzen können. Es hat ihn in die Reihe der Dortmunder Derbyhelden katapultiert. Er steht jetzt in den Geschichtsbüchern. Weil das Derby mehr ist. Es infiziert den Ruhrpott. Das Derby ist das größte Spiel im deutschen Fußball. Es ist aber auch eins, das vom Aussterben bedroht ist. Die mit elf Derby-Debütanten auflaufenden Gäste aus Schalke sind zwar zurück in der Bundesliga, doch ihr Comeback nach Jahren der Misswirtschaft wird von großen Abstiegssorgen begleitet. Der Gigant aus Gelsenkirchen muss in dieser Spielzeit auf die Konkurrenz hoffen. Es müssen sich zwei Teams finden, die weniger Punkte sammeln. Dann kann auch das Derby weiterleben.
Die Deutschen Meisterschaften im Bevölkerungsschutz
All die Ungewissheit aber sorgt an diesem Samstag in Dortmund für eine aufgeregte Stimmung. An Derbytagen lebt der Ruhrpott nur für dieses eine Spiel. Sogar die Wespen haben sich ein letztes Mal herausgeputzt. Sie schwirren in der Auslage des Bäckermeisters Kamms auf dem Dortmunder Markt. Stürzen sich mal hungrig auf die Plunderteilchen und bald auf den Bienenstich. Sie weichen den Attacken der Bäckereifachverkäuferinnen aus und klauben noch einmal all die Köstlichkeiten für ihre Jungkönigin zusammen. Bald endet der Sommer und damit auch das Leben der meisten Wespen.
Auf der anderen Seite des Warenhauses am Markt sammln sich die Dortmunder Fans. Dem Aufruf "Alle in Gelb" Folge leistend, haben sich die Fans des BVB schon vor dem Mittag in die Stadt begeben. Derby-Tag, was soll man sonst auch machen. Einige bestaunen die "Deutschen Meisterschaften im Bevölkerungsschutz". In goldene Rettungsdecken gehüllt, liegen ein paar Statisten in einem mit Flatterband abgesperrten Bereich. Dort wird erstversorgt. Ein Juror macht sich Notizen. Wer die verschiedenen Szenarien am besten absolviert, wird Deutscher Meister im Bevölkerungsschutz.
Die Fans interessiert es wenig, sie wollen im Fußball eine Meisterschaft feiern und vorher den Derbysieg. Gewonnen wird das alles auf dem Platz, nicht hinter Flatterband. Die Anhänger der Schwarzgelben verlassen den Markt und ziehen singend, mit Sechserträgern voller Bier hoch in Richtung Stadion. Auf der anderen Seite laufen die Schalker Fans aus dem Süden kommend ebenfalls in Richtung Strobelallee. Sie, die Ultras, werden verspätet eintreffen und erst in der 17. Spielminute in den Gästeblock stürmen und ihre Lieder singen. Die hat man lange nicht mehr im Westfalenstadion gehört. Sie sind den Dortmundern in schlechter Erinnerung.
Der Tag, als die Meisterträume starben
Das letzte echte Derby im Dortmunder Westfalenstadion hat der Borussia in der Spielzeit 2018/2019 die Meisterschaft gekostet. Mit 2:4 geht das Team des damaligen Trainers Lucien Favre am 27. April 2019 einfach unter. Rote Karten für Marco Reus und Marius Wolf nach eingesprungenen Grätschen tun ihr übrigens in einer Partie, die nach der frühen BVB-Führung schnell kippt. Ein Feuerzeugwurf gegen Jadon Sancho, ein VAR-Einsatz und die Gäste übernehmen das Kommando. Die Borussen geben sich ihrer Ambitionslosigkeit hin, liefern den Bayern noch ein Rennen bis zum letzten Spieltag. Erfolglos.
Wieder einmal hat das Derby Geschichte geschrieben. Wie beim 4:4 nach einer 4:0-Führung der Dortmunder, wie das 3:3 nach 0:3-Rückstand und wie die Mutter aller Derbys aus Dortmunder Sicht am 12. Mai 2007. Einem 2:0, das die Meisterträume der Schalker beendete. Wie man jetzt weiß: womöglich für immer.
In der Pandemie ist alles anders. Spiele ohne Fans. Spiele ohne Wettbewerb. Zu tief ist Schalke gestürzt, zu geklärt sind die Verhältnisse. Als der Fußball nach dem ersten Lockdown im Mai 2020 zurückkehrt und die Welt im Lockdown auf die Bundesliga schaut, gewinnt der BVB mit 4:0. Erling Haalands Jubel im leeren Stadion ist ikonisch. Vor dem Fernseher in Birmingham fasst Jude Bellingham einen Entschluss: Nicht Manchester United, nicht Bayern München, sondern Borussia Dortmund sollte es sein.
Die Welt schaut auf Dortmund

Shinji Kagawa, Pierre-Emerick Aubameyang und Henrikh Mkhitaryan beim 3:2 im November 2015.
(Foto: imago/Laci Perenyi)
Längst hat er den zu Manchester City abgewanderten Haaland als Publikumsliebling abgelöst, noch nie hat er ein Derby vor Zuschauern gespielt. In seinem 100. Pflichtspiel für den BVB, ist es erst sein zweites Derby überhaupt. Bei Bellinghams erstem Derby ist der Gegner schon kein Gegner mehr. Beim 4:0 am 20. Februar 2021 in der Schalker Veltins Arena liegt Haaland spektakulär in der Luft. Eine Übung für das 2:1 des Norwegers gegen seinen alten Verein in der Champions League.
Das Derby. Es ist zurück. Und mit ihm die Wucht der Geschichte, die im "City Anzeiger", dem lokalen Anzeigenblatt, in epischer Breite erzählt wird. Die Titelseite verspricht zur "Einstimmung auf DEN Klassiker" die besten Geschichten "aus der Historie der 'Mutter aller Derbys'". Das Aufeinandertreffen der Schwergewichte aus dem Ruhrgebiet ist auch ein letztes Pfund der international in schweren Fahrwassern befindlichen Liga.
Für die ist das Derby ein "Showpiece Event". So wahnsinnig viel hat die Liga nicht mehr zu erzählen, auch wenn die Bayern in dieser Saison endlich auch wieder daran arbeiten. Aus etlichen Ländern sind Reporter nach Dortmund gebracht worden, um über die Faszination Revierderby zu berichten. Nach dem Spiel stehen die Trainer etlichen TV-Stationen aus aller Welt Rede und Antwort.
"Die süßesten drei Punkte"
Auf dem Platz dreht die Mannschaft der Dortmunder eine Ehrenrunde. Als sie vor der Gästetribüne ankommen, winken sie den Schalkern. Die schäumen vor Wut, in den Gesichtern der BVB-Spieler spiegelt sich die Freude. Über den Sieg, über die plötzliche Tabellenführung und sicher auch über den Gruß zu den Fans, die Marco Reus nach seiner Verletzung ein höhnisches "Auf Wiedersehen" mit auf den Weg gegeben haben.
Auf der Südtribüne, die vor dem Spiel in einem Meer aus Pyro versunken ist, fordern die Dortmunder unterdessen Trainer Edin Terzic. Bereits beim Abpfiff ballt er seine Faust. Jetzt schaut er vor der Tribüne, auf der er einst stand, vorbei. Vor dem Spiel hat er über seine Derby-Furcht gesprochen. Er hat Angst davor, dem gegnerischen Trainer zum Sieg zu gratulieren. "Es sind die süßesten drei Punkte, die wir in dieser Saison holen können", sagt er.
So feiert eine Seite den ersten Derbysieg vor Zuschauern seit einem 3:2 am 8. November 2015. Für Schalke spielen Max Meyer, Jan-Klaas Huntelaar, Joel Matip, Leon Goretzka, Pierre Emile Höjbjerg, Eric Maxim Choupo-Moting und Leroy Sané. Youssoufa Moukoko ist damals zehn Jahre alt. "Ich weiß, was in seiner Welt alles abgeht", sagt Terzic, der Moukoko-Flüsterer, am Samstag. "Ich habe noch viel Zeit, meine Zeit ist noch lange nicht vorbei", sagt Moukoko bei Sport1 und schwelgt schon in Erinnerungen: "Ich habe nur gesehen, wie die Gelbe Wand durchgedreht ist. Das war sehr schön."
Quelle: ntv.de