Stars des FC Bayern unter Druck Nagelsmanns erzwungener Weg produziert prominente Verlierer
15.10.2024, 20:37 UhrDie deutsche Nationalmannschaft erlebt große Zeiten. Bundestrainer Julian Nagelsmann gelingt es, eine mitreißende Mannschaft mit Gewinner-Mentalität auf den Rasen zu schicken. Nahezu jeder personeller Griff sitzt, aber wo Gewinner sind, da sind auch Verlierer.
Muss man Leon Goretzka eigentlich noch als Verlierer nach Länderspielen aufführen? Vermutlich nicht (mehr). Aber mit jeder Partie der deutschen Fußball-Nationalmannschaft rückt ein Comeback des Mittelfeldspielers des FC Bayern im DFB-Team in weitere Ferne. Das hört sich immer noch seltsam an, denn in einer noch nicht lange vergangenen Zeit war eines der großen (von vielen) Problemen der Nationalmannschaft, wie man das Zentrum besetzt. Wohin mit Joshua Kimmich, Goretzka und İlkay Gündoğan war da die Frage. Und dann kam Gigant Toni Kroos für einen letzten Job für Deutschland zurück.
Mittlerweile sind die Dinge überraschend geklärt: Gündoğan und Kroos sind in DFB-Rente, Kimmich nach hinten rechts gegangen und Goretzka ins Nirwana. Und im Zentrum ist ein neues Gerangel entstanden. Stratege Pascal Groß und der robuste Abräumer Robert Andrich, trotz zu vieler unnötiger Fouls, haben sich in der Post-EM-Ära einen kleinen Vorteil erarbeitet, aber mit Aleksandar Pavlović und Angelo Stiller drängen zwei Top-Talente nach. Sie haben ihre Stärken vor allem, wenn die eigene Mannschaft im Ballbesitz ist, sammelten aber auch defensiv viele Argumente für weitere Einsatzzeiten. Ihnen gehört die Zukunft, spätestens nach der WM 2026.
Das neue Gerangel im Maschinenraum produziert damit noch einen weiteren großen Verlierer: Emre Can. Der BVB-Kapitän erlebte bei der Europameisterschaft im Sommer eine überraschende Renaissance. Weil Pavlovic nicht spielen konnte, rückte Can überraschend nach. Spielte, erzielte ein Tor. Und machte sich so wieder interessant für die Nationalmannschaft. Doch das Interesse scheint zumindest von Nagelsmann und seinem Trainer-Team schnell wieder erloschen. Can kämpft mit seiner Form und den wilden Attacken von Ex-Nationalspieler Mario Basler, der augenscheinlich so gar nichts dem 30-Jährigen anfangen kann. Aber die Türen zum DFB-Team sind nicht zu, das hatte der Bundestrainer ja immer wieder betont. Einzig Torwart Bernd Leno, der wegen wohl mangelnder Aussicht auf Spielzeit nicht anreisen wollte, darf sich kaum noch Hoffnungen auf eine Rückkehr in den Kreis von Deutschlands Besten machen.
Füllkrug rutscht in der Hierarchie ab
Dass auch der gerade erst beendete Doppelspieltag neue Gewinner und Verlierer schafft, hat eine besondere Note. Nagelsmann war wegen zig Verletzungen dazu gezwungen, seinen ursprünglichen Plan vorübergehend aufzugeben, eine feste Hierarchie für das große Ziel WM-Sieg 2026 einspielen lassen. Die große Debatte dieser Zeit, die Überlastung der Spieler, war mit Wucht über das Team hereingebrochen. Man kann sich all die Namen kaum merken, die da abgesagt haben. Die prominentesten waren Marc-André ter Stegen, Jamal Musiala und Niclas Füllkrug. Und zumindest der Stürmer, der mittlerweile bei West Ham United unter Vertrag steht, darf sich auch als ein kleiner Verlierer fühlen. Bei den Fans ist er extrem beliebt und rechtfertigt seinen Platz im DFB-Team mit einer starken Torquote: In 22 Länderspielen traf er 14 Mal. Er tut das, wofür er da ist.
Und trotzdem dürfte er in der internen Hierarchie ein bisschen abrutschen. Nagelsmann ist ein großer Fan von Kai Havertz, der Offensivspieler des FC Arsenal war ebenfalls nicht dabei. Aber durch seine Kombinationsstärke und seine Spielintelligenz schafft er sich im System des Bundestrainers einen festen Platz. Dem kommt auch Deniz Undav immer näher. Dessen Geschichte ist kaum zu fassen: Noch im ersten Halbjahr 2020 spielte er beim SV Meppen, seither geht es nur bergauf. Und zwar auf so steilem Terrain, dass andere nicht mal einen Fuß vor den anderen bekämen. Undav hat einen Marktwert von 28 Millionen Euro erreicht, spielt mit dem VfB Stuttgart in der Champions League und macht sich auch neben dem Platz beliebt. Wenn es jemals einen Typ geben kann, der Thomas Müller als hauseigenen Radiosender und Klartextler ersetzen kann, dann ist Undav auf guten Pfaden unterwegs. Weil es auf seiner Frequenz nie still ist, hört man schon Antenne Undav als Spitznamen.
Nagelsmann hat Spaß an der Not
Und dann, zurück zum Fall Füllkrug, schiebt von hinten noch Tim Kleindienst nach. Der arbeitet unermüdlich und hatte gute Momente im Kombinationsspiel, war aber im Abschluss, anders als Füllkrug, (noch) nicht effektiv. Den Gladbacher Torjäger muss "Lücke" noch nicht als Konkurrenten fürchten, aber zumindest im Rückspiegel sieht er plötzlich einen weiteren Konkurrenten als Hünen im Strafraum. Der Kader ist, das ist die große Erkenntnis der Nations-League-Duelle, jetzt breiter aufgestellt, der Konkurrenzdruck nimmt zu. "Gut, dass wir aus der zweiten Reihe neues Personal dazugewonnen haben", sagte Nagelsmann. Die Botschaft: Keiner kann sich zurücklehnen. Gut für den Bundestrainer auch: Alexander Nübel und Oliver Baumann, Platzhalter für ter Stegen, liefern stabil ab, ein Torwart-Problem hier tut sich nicht auf.
Ebenso erstaunlich wie der Werdegang von Undav ist der Aufstieg von Jamie Leweling, auch er spielt beim VfB Stuttgart. Die Schwaben, die im Sommer 2023 fast noch abgestiegen wären, sind derzeit der größte Lieferant an Spielern für Nagelsmann. Das ist schon erstaunlich. Leweling, so ehrlich wollte Nagelsmann sein, wäre nicht im Kader gewesen, wenn es die große Absagenflut nicht gegeben hätte. So aber erhielt der 23-Jährige eine schnelle Belohnung für seine Entwicklung in den vergangenen Monaten. Und wie er sie nutzte. Er war im Spiel gegen die Niederlande der auffälligste Feldspieler. Hatte Druck und Tempo nach vorne, arbeitete auch mit nach hinten.
Das Konstrukt ist überraschend stabil
Leweling mag besonders gerne auf der rechten offensiven Außenbahn spielen. Er könnte ein neuer Gefährte für Musiala und Florian Wirtz werden, die ja unantastbar sind und die großen Hoffnungen der Nationalmannschaft schultern. An ihrer Seite könnte auch, je nach System, ein hängender Havertz spielen, oder aber ein Bayern-Star. Serge Gnabry kehrte nach längerer Zeit zurück, konnte die Einsätze aber noch nicht wieder gewinnbringend für sich nutzen. Leroy Sané fehlte dagegen, auch er muss kämpfen. Um seinen Platz beim FC Bayern, wo Musiala und der überragende Neuzugang Michael Olise aus Frankreich dominieren, und wo Gnabry, der einfach nicht müde werdende Thomas Müller und Kingsley Coman ebenfalls Ansprüche anmelden. In bester Verfassung dürfte der rasante Sané kaum zu verdrängen sein, einen festen Platz in der Nationalmannschaft haben. Aber wann hat man den Flügelstürmer zuletzt über einen langen Zeitraum in bester Verfassung gesehen? Und was ist eigentlich mit Julian Brandt, der das neue Gesicht des BVB werden soll? Auch er taucht in Kader-Debatte kaum noch auf.
Einer, der ebenfalls zu den Enttäuschten gehören dürfte, ist Chris Führich. In den vergangenen Saison spielte der Flügelstürmer des VfB Stuttgart so groß auf, dass es Gerüchte um einen Wechsel zum FC Bayern oder zum BVB gab. Er blieb aber bei den Schwaben und mühte sich in der ersten Saisonphase, um seine beste Form. Und die braucht er, um in diesem DFB-Team, das so einen erstaunlichen Wandel vollzogen hat, seinen Platz zu behalten. Nationalspieler außer Dienst Thomas Müller befand bei seinem Abschied in München am Montagabend: "Ich finde, dass wir einen positiven Trend haben. Und vor allem, dass man Spieler sieht, die sich ins Rampenlicht spielen wollen. Nicht des Rampenlichts wegen, sondern weil sie es geil finden, für Deutschland zu spielen." Fußballerisch, schwärmte der Bundestrainer von seinen Spielern, seien sie "sehr dominant geworden". Und das Konstrukt ist inzwischen so stabil, dass selbst eine Flut von Absagen zu keinem Systemausfall mehr führt.
Der "größte Schritt", so empfindet Nagelsmann, sei "die Gier, welche die Mannschaft aktuell verkörpert, Spiele gewinnen zu wollen. Ich habe jetzt in der Nations League noch kein Spiel gehabt, wo ich das Gefühl hatte, es ist egal, ob wir gewinnen oder nicht gewinnen." Er selbst lebt das in seinem durchaus turbulenten ersten Jahr als Bundestrainer immer und immer wieder vor. Stand jetzt, wächst da eine Mannschaft zusammen, die an die Qualität und Mentalität der letzten deutschen Titelgewinner anknüpfen könnte.
Quelle: ntv.de