Jamie Leweling ist der Matchwinner des DFB-Teams gegen die Niederlande. Dabei hatte der Bundestrainer den 23-Jährigen eigentlich gar nicht nominiert. Dann aber sagen reihenweise Spieler ab und Julian Nagelsmann muss improvisieren. Das wird zum größten Gewinn der Länderspielphase.
In der ersten Nominierungsliste von Bundestrainer Julian Nagelsmann für die Nations-League-Spiele gegen Bosnien und Herzegowina sowie die Niederlande tauchte er nicht einmal auf. Nun bekam Jamie Leweling in der 87. Minute als Matchwinner stürmischen stehenden Applaus der 68.367 Fans in der ausverkauften Allianz Arena in München und ein dickes Lob von Nagelsmann obendrauf. Er hatte als einziger beim 1:0-Sieg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen die Niederlande das Tor getroffen. Der 23-Jährige hat seine Chance der Nachnominierung für den angeschlagenen Jamal Musiala herausragend genutzt. Und gleichzeitig gezeigt, wie das DFB-Team aus der Not eine Tugend machen kann.
"Ich weiß, dass er sehr viel Energie hat, aber dass er so gut spielt, hätte ich nicht erwartet", lobte Nagelsmann ihn nach der Partie überschwänglich. Um dann festzustellen: "Wären alle gesund gewesen, wäre er nicht dabei gewesen, so ehrlich muss man sein." Doch jetzt ist es möglich, dass Nagelsmann bei der nächsten Nominierungsrunde im November direkt die Telefonnummer von Leweling wählt, schließlich hat er Eindruck hinterlassen. Kapitän Joshua Kimmich sagte: "Jamie hat unabhängig von seinem Tor ein super Spiel gemacht."
In Bosnien und Herzegowina hatte Leweling am Freitag beim 2:1 noch 90 Minuten auf der Bank gesessen, nun stand er überraschend sogar in der Startelf. Er war für seinen Stuttgarter Teamkollegen Deniz Undav reinrotiert, der wegen Adduktorenproblemen ausfiel. Er stand bei der Nationalhymne zwischen Aleksandar Pavlovic und Angelo Stiller - für den Münchner ist es das vierte Länderspiel, VfB-Teamkollege Stiller hat jetzt drei auf dem Konto, für beide war es das Startelfdebüt - war sofort voll da und schoss den Ball nach 100 Sekunden das erste Mal ins Tor. Die Fans jubelten, die Stadionregie spielte "Major Tom" ein - aber Schiedsrichter Slavko Vinčić gab den Spielverderber. In einer für die Außenstehenden unverständlichen Situation ging er zur Video-Ansicht an den Spielfeldrand und entschied letztlich: kein Tor. Serge Gnabry hatte passiv minimal im Abseits gestanden, griff dann wohl aktiv ins Spielgeschehen ein, indem er die Torvorlage bereitete.
Kimmich lobt: "Sehr intelligent"
Kurz schütteln, dann weiter. Erschreckend schwache Niederländer taten nicht sonderlich viel fürs Gelingen des Spiels, in der ersten Hälfte gaben sie nicht einen Schuss aufs Tor ab. Die Deutschen konnten sich einigermaßen nach Belieben durchkombinieren, Leweling war dabei auffällig. "Er hat sehr, sehr schlaue, richtige Entscheidungen getroffen, war technisch sauber. Es war nicht so, dass er nur auf Sicherheit gespielt hat, aber selbst seine Risikoaktionen waren sauber und sehr intelligent", so Kimmich. Und auch der ebenfalls noch Jung-Nationalspieler Tim Kleindienst - trotz seiner 29 Jahre - hatte offensive Szenen, genauso wie der zurückgekehrte Serge Gnabry.
Doch es blieb beim 0:0. Bis Leweling in der 63. Minute sein Glück erzwang. Eine Ecke von Kimmich von rechts bekam Oranje nicht geklärt, Nico Schlotterbeck legte ihn unabsichtlich - aber egal - mit der linken Hacke zu Leweling ab, der mit rechts draufhielt. Unhaltbar rein in den rechten Torwinkel. Eine kurze Sorge eines Déjà-vus beschäftigte Leweling, denn Schlotterbeck musste sich nach seinem Weiterleiten arg beeilen, aus dem Abseits zu kommen. "Schlotti kam zu mir und hat gesagt, dass er im Abseits stand. Da hatte ich schon wieder Angst", so Leweling: "Zum Glück hat es diesmal gezählt." Diesmal konnte "Major Tom" "völlig losgelöst" durch die Arena schweben und die Fans zu Jubelstürmen animieren.
Kimmich lobt Nagelsmann
Leweling, Stiller, Pavlovic - die drei Namen zeigten es bereits, da stand eine verdammt unerfahrene Mannschaft auf dem Platz. Kapitän Kimmich hat mit 95 Länderspielen mit Abstand die meiste Erfahrung, dann folgt Abwehrchef Antonio Rüdiger mit 76 Partien. Neben Leweling gab auch Torhüter Oliver Baumann sein DFB-Debüt, etliche Jahre hatte er geduldig darauf gewartet. Mit den eingewechselten Jonathan Burkardt (2), Kevin Schade (4) und Waldemar Anton (7) wurde das Team immer unerfahrener, Maximilian Mittelstädt wirkte in seinem zehnten DFB-Spiel schon wie ein eingespielter, alter Hase.
Der Souveränität tat die Not der Unerfahrenheit keinen Abbruch - und das, obwohl die sieben Ausfälle nach der Nominierung plus die Verletzungen der beiden Angreifer Undav und Chris Führich Nagelsmann einige schwere Stunden gebracht hatten. "Es war vor dem Spiel ein bissl eine Wundertüte. Man hat an der Startelf gemerkt, dass viele Wechsel da waren, aber ich fand, es hat sehr gut ausgesehen", so der sehr zufriedene Kimmich. "Wir sind ein funktionierendes System, haben funktionierende Abläufe, jeder weiß, was seine Aufgabe ist. Das ist sicherlich der Verdienst des Trainers", lobte er. Und Leweling erklärte: "Wenn man in so einer guten Mannschaft mitspielen darf, mit so guten Spielern, dann fällt es einem natürlich leichter, sein eigenes Spiel zu machen."
Nagelsmann ist "stolz auf meine Mannschaft"
Für den neuen Kapitän ging es in diesem Spiel viel auch um die Souveränität und das Selbstverständnis. Deutschland ist als Fußballgroßmacht wiedererstarkt, die Gegner nehmen das DFB-Team wieder als starken Gegner wahr, so seine Ansicht, selbst wenn die Startelf neu zusammengewürfelt ist. "Das Turnier beginnt ja nicht mit Turnierbeginn, sondern eigentlich beginnt es schon vorher, dass man als Team zusammenwächst, dass eine gewisse Identifikation entsteht. Und das, hab ich das Gefühl, passiert gerade", sagte der Kapitän. "Das hat schon vor der EM begonnen, jetzt hatten wir einige Wechsel drin, der Kern ist trotzdem zusammengeblieben und drumherum merkt man, dass sich viele Jungs gut entwickeln, dass jeder Lust hat, auf dem Platz zu stehen, dass jeder Lust hat, den anderen herauszufordern und zum Glück können wir das momentan in Siege ummünzen."
Auch Nagelsmann war überaus zufrieden: "Die Gier, die die Mannschaft verkörpert, ist ein sehr, sehr großer Schritt. Ich bin stolz auf meine Mannschaft." Es zeigte sich: Egal, wer da auf dem Platz steht und das Trikot mit dem Adler auf der Brust trägt, derjenige fügt sich ein in ein bestehendes System. Es ist nicht mehr so labil, wie es vor einem Jahr noch war, als jeder kleinste Windhauch schwere Verwüstungen anrichten konnte. Als das DFB-Team verlacht wurde, als die Fans die Heim-EM vorab abgeschrieben hatten und die Experten sich fragten, wie irgendein Trainer nach Graugans-Beschwörer Hansi Flick die abgestürzten Vögel wiederbeleben sollte und wer denn überhaupt für die Nationalmannschaft infrage kommen könnte.
Und jetzt steht da ein Team auf dem Platz, das diesen Namen verdient. Die Nominierten haben zusammen Spaß - den Aussagen, Bildern und Videos zufolge auch außerhalb des Platzes, arbeiten füreinander und stecken die Neulinge offenbar sofort mit dem neu entfachten Feuer an. Bei dieser Länderspielphase waren es besonders viele Unerfahrene - und es klappte trotzdem. Zwei Spiele, zwei Siege, die Qualifikation für das Viertelfinale der Nations League eingesackt. Und ganz nebenbei die Sicherheit für Nagelsmann. Sein Team funktioniert, er kann seinen Spielern vertrauen und ihnen Herausforderungen zumuten. Und das ist für die Vorbereitung auf die WM 2026 doch neben den Erfolgen der beste Gewinn.
Quelle: ntv.de