Lyon giert auf Bayerns Schwäche Nicht dass Beckenbauer wieder wütend wird
18.08.2020, 13:32 Uhr
Die wütende Lichtgestalt von Lyon.
(Foto: imago sportfotodienst)
Zumindest der Weg ins Finale scheint frei für den FC Bayern. Zu dominant wildert sich die Mannschaft durch die Champions League. Dass Olympique Lyon die dritte Sensation gelingt - eigentlich unmöglich. Aber das eigentlich Unmögliche ist ja schon einmal passiert.
Hasan Salihamidzic und Oliver Kahn durften sich amtlich was anhören. Was die beiden Fußballer und ihre Kollegen (sie mussten selbstverständlich mithören) vom FC Bayern am 6. März 2001 in der Zwischenrunde der Champions League bei Olympique Lyon (0:3) ablieferten, das erzürnte den Kaiser. Und zwar mächtig und historisch. Seine Tiraden gegen die eigene Mannschaft sind längst zur Legende geworden. Als "Uwe-Seeler-Traditionsmannschaft" und als "Lehrbuben" stempelte er das Starensemble des Rekordmeisters ab, das sich beim französischen Spitzenklub zuvor tüchtig blamiert hatte. Es sei "Altherrenfußball" gewesen. Ach, mehr sogar noch. Gar kein Fußball sei es gewesen, schimpfte er.
Die Ansage von Präsident Franz Beckenbauer, sie war bestens getimt. Eine Saison, die mit der Peinlichkeit in der zweiten Runde des DFB-Pokals beim 1. FC Magdeburg begann, sie endete schließlich mit dem Titel in der Königsklasse und der - wieder wird's historisch - Drama-Meisterschaft in der Fußball-Bundesliga, als ein Freistoß von Abwehrchef Patrick Anderson gegen den Hamburger SV in der Nachspielzeit den fernen FC Schalke 04 zum tragischsten Vize-Titel der Liga-Geschichte schoss. Eine Wunde, die die Gelsenkirchener bis in diese Zeit immer wieder juckt, auch wenn sie gerade ganz andere Sorgen haben.
Lyon - kein Thema?
Es ist eine Gemengelage, mit der sie sich in München schon seit langer Zeit nicht mehr beschäftigen. In diesem Jahr noch nicht einmal. Selbst zähe Vertragsgespräche (mit Manuel Neuer oder David Alaba) oder überraschende und unabgesprochene Attacken von Patron Uli Hoeneß (gegen den BVB) prallen derzeit an den Bayern ab wie Holzlanzen an den stolzen Schilden eines römischen Zenturios. 24 Pflichtspiele hat die Mannschaft von Hansi Flick in diesem Jahr bestritten. Bis auf ein Remis gegen RB Leipzig in der Bundesliga gab es nur Siege. Darunter dann eben auch so demütigende wie am vergangenen Freitag, als der einst so ruhmreiche FC Barcelona brutal blamiert wurde. Mit 8:2 prügelten die Münchener Lionel Messi und sein Team aus dem Viertelfinale der Champions League. Seither gilt das Triple für den Deutschen Meister und Pokalsieger als ausgemachte Sache.
Zumindest in der öffentlichen Diskussion. Klar, im Finale wartet noch Paris St. Germain, mit Neymar und mit Kylian Mbappé. Aber auch die nicht immer sonderlich stabil ausbalancierte Mannschaft von Thomas Tuchel (gegen RB Leipzig gab's dann natülich direkt den Gegenbeweis) gilt den allermeisten Experten und Kommentatoren als gut beherrschbar. Aber vor Paris steht erst mal Lyon. Lyon, diese Mannschaft, die wirklich niemand auf dem Zettel hat. Obwohl Cristiano Ronaldo mit Juventus Turin an ihr verzweifelt ist und Raheem Sterling den wohl schmerzhaftesten technischen Fehler seines aufregenden Fußballerlebens gegen sie fabrizierte.
Das klappt nicht nur mit Glück
Immerhin bemühen sich die Münchener darum, den Fokus nicht zu verlieren. Weltmeister Corentin Tolisso, der im Sommer 2017 von Olympique zum Rekordmeister gewechselt war und dort bislang auch aufgrund schwerer Verletzungen noch nicht zur Stammkraft aufgestiegen ist, warnte eindringlich: "Lyon steht im Halbfinale der Champions League, und ich glaube nicht, dass eine Mannschaft das nur mit Glück schafft. Zu keinem Zeitpunkt werden wir diese Mannschaft unterschätzen." Diese Mannschaft, die doch tatsächlich an die dritte Sensation in Serie glaubt - trotz der Überform des FC Bayern. So sagt Juninho, der Sportdirektor, der von 2001 bis 2009 für den Klub spielte und die goldene Ära als Regisseur und Kunstschütze prägte: "Wir können mittlerweile jeden schlagen."
Bei aller Zuversicht ist es jedoch weiterhin eine große Überraschung, dass Lyon den Sprung ins Halbfinale geschafft hat. In der Liga kam Olympique nur auf Rang sieben - die Qualifikation für einen Wettbewerb in Europa: verpasst. Es war ein "schreckliches Jahr", wie der allmächtige Klubchef Jean-Michel Aulas vor dem Knockout-Turnier der Königsklasse in Lissabon einräumte. Zudem musste man mit Lucas Tousart in diesem Sommer einen wichtigen Spieler an Hertha BSC abgeben. Warum es dennoch nun so überragend läuft, können sie sich eigentlich selbst nicht erklären. Ein Ansatz klingt so: "Die Mannschaft trainierte anders, die Spieler wirkten reifer, hatten mehr den Wunsch, füreinander zu spielen", sagte Juninho.
Wie Barcelona spielen, nur besser
Der Plan, den er gegen den FC Bayern verfolgt? So spielen wie Barcelona vor dem Tor-Tsunami. Mit hohen Bällen in die Spitze und mit Tempo über die Flügel. Allerdings nicht bloß fünf bis sieben, sondern mindestens mal 90 Minuten. "Von der spielerischen Idee und auch von der aktuellen Form her sind sie ganz sicher eine deutlich schwerere Aufgabe für die Bayern, als es Barça war", analysiert unser Taktik-Experte Constantin Eckner. Ein Ansatz des Spiels der Lyoner kratzt nämlich hart an den bayerischen Schwachstellen. "Eine Stärke sind die langen Bälle über die Abwehr. Da die Bayern sehr hoch stehen, vor allem die Außenverteidiger, riskieren sie so, dass die schnellen und abschlussstarken Spieler wie Memphis Depay, Moussa Dembélé, Maxwel Cornet oder Karl Toko Ekambi in gute Gelegenheiten kommen."
Allerdings wird genau dieser Plan womöglich auch die größte Schwierigkeit für Olympique werden, wie Eckner findet. Mit ihrer defensiven Formation - drei zentrale Verteidiger und zwei Außenspieler, die sich oft zurückziehen - können sie gegen das aggressive Pressing zwar eine Überzahl in der Abwehr erzeugen, bekommen den Ball aber womöglich nicht kontrolliert zu ihren technisch starken Mittelfeldspielern um Houssem Aouar und Bruno Guimaraes oder direkt zu ihren schnellen Angreifern.
Als Mastermind und Hoffnungsträger gilt erneut Trainer Rudi Garcia. Gegen Manchester City verzichtete er zunächst auf Dembélé, den erfolgreichsten Torschützen des Teams. Erst als Depay nach 75 Minuten völlig ausgepowert war, kam der 24-Jährige - und traf doppelt. Lyon hatte wieder einmal einen Favoriten blamiert, wie damals, am 6. März 2001.
Quelle: ntv.de