Trotzig im offenen Titelduell Tabellenführung futsch, BVB ist es "wurscht"
10.03.2019, 08:48 Uhr
Das Spiel gegen den VfB Stuttgart war nichts für Schönwetter-Fußballer.
(Foto: www.imago-images.de)
Der jugendliche Übermut und die Leichtigkeit der Hinrunde sind dem BVB längst abhanden gekommen. Im Meisterschaftsrennen sind nun Beharrlichkeit und Kampf gefragt. Zwar ist die Tabellenführung futsch, doch der erzwungene Sieg gegen den VfB stärkt das Selbtbewusstsein.
Als seine Kollegen nach dem Abpfiff längst vor dem sintflutartigen Regen und dem Orkanwind in die Katakomben des Dortmunder Stadions geflüchtet waren, drehte Marco Reus noch immer seine Runden auf dem Rasen. Die Stimmung hoch halten, die Fans mitnehmen - es gibt viel zu tun im Rennen um die Deutsche Meisterschaft, das sich so spannend gestaltet, wie schon seit Jahren nicht mehr. Was der Kapitän für alle sichtbar demonstrieren wollte, lag auf der Hand: Flagge zeigen. Seht her, wir sind da und bereit, sämtlichen Widrigkeiten zu trotzen.

Vor und während des Spiels regnete es heftig. Dazu kam ein eisiger Wind.
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Der BVB hatte an diesem 25. Spieltag der Fußball-Bundesliga vor mehr als 80.000 Zuschauern im heimischen Stadion zwar die Tabellenführung an die Bayern verloren, aber - und das wog in diesem Moment schwerer - sein Spiel gegen den VfB Stuttgart nach großem Kampf mit 3:1 (0:0) gewonnen. Es war ein gehöriges Stück Arbeit, das bei widrigen Bedingungen an die Substanz gegangen war. Doch Reus und Co. bestanden die Charakterprobe und schossen in der Schlussphase noch den Sieg heraus, nachdem das Team zuvor den Ausgleich zum 1:1 hatte hinnehmen müssen.
Dabei zeigten die Dortmunder das, was auf der Zielgeraden der Saison von ihnen verlangt wird: Der jugendliche Überschwang und die spielerische Leichtigkeit der Hinrunde haben sich längst verflüchtigt. Gefragt sind im Revier stattdessen Beharrlichkeit, Stehvermögen und harte Maloche. Tugenden, die der BVB gegen wehrhafte Schwaben ins Spiel brachte, und die stilgebend sein könnten für die letzten neun Begegnungen dieser Spielzeit.
Reus, der Verantwortung übernahm, als er den Strafstoß zur Dortmunder Führung nervenstark im Tor versenkte, sprach von einem "Sieg des Willens. Mit dem Wetter und dem Wind - das war schon brutal heute". Dazu kam ein Gegner, wie ihn der BVB im Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Bayern noch öfter erleben wird: Stuttgart stellte sich mit einer Fünfer- und einer dicht davor positionierten Dreierkette betont defensiv auf und versuchte, aus dieser Bastion heraus einige wenige Nadelstiche zu setzen. Dortmunds Trainer Lucien Favre fand für den massiven gegnerischen Abwehrverbund eine interessante Formulierung: "Sie haben vor unserem Tor einen gigantischen Bus geparkt, es war schwer, die Lücke zu finden."
Aus gegen Tottenham war Zäsur
Neben kämpferischen Tugenden wird also auch noch Geduld gefragt sein. Und Nervenstärke, denn die Dramatik im Titelkampf nimmt von Woche zu Woche zu. Um zehn vor fünf war es am Samstag tatsächlich so weit, dass der Rekordmeister aus München und der Herausforderer aus dem Ruhrgebiet für einige Minuten gemeinsam punkt- und torgleich an Position eins rangierten. Nach dem Kantersieg des Titelverteidigers gegen den VfL Wolfsburg sind es nun zwei mickrige Törchen, durch die die beiden Konkurrenten getrennt sind.
Wer die Dortmunder Protagonisten auf die prickelnde Konstellation anspricht, erfährt wenig Erhellendes. Der zum Außenverteidiger umfunktionierte ehemalige Frankfurter Marius Wolf dokumentierte, dass er die offizielle Dortmunder Sprachregelung längst verinnerlicht hat. Die Lage an der Tabellenspitze sei in der Mannschaft kein Thema, betonte der 23-Jährige: "Das hat uns vor dem Spieltag nicht interessiert, jetzt interessiert es uns auch nicht." Reus formulierte es ähnlich: "Das ist mir wurscht. Entscheidend ist, wer am Ende vorn ist. Und da ist alles offen."
Tatsächlich wähnen sie sich im Revier trotz des Durchhängers der letzten Wochen, in denen ein Vorsprung von sieben Punkten auf den Branchenprimus verspielt wurde, in einer komfortablen Position. In Dortmund werten sie das Aus in der Königsklasse wie eine Zäsur. Frei nach dem Motto: Pokal futsch. Champions League futsch. Aber im Titelrennen, da sind wir noch dabei und haben gute Karten, wenn wir so auftreten wie gegen Tottenham Hotspur. Sebastian Kehl, Leiter der Lizenzspielerabteilung, spricht von einer "Benchmark für das, was wir leisten können und für das, was wir auch in der Liga zeigen müssen". Reus fügt hinzu: "Wir wissen, dass wir keine Englischen Wochen mehr haben. Wir müssen jetzt liefern."
Der Umstand, dass sich die Dortmunder in aller Ruhe auf einen Wettkampf pro Woche vorbereiten können, während die Bayern noch in drei Wettbewerben gefordert sind, könnte sich tatsächlich als nicht zu unterschätzender Vorteil herausstellen. Dazu kommt der Umstand, dass Torjäger Paco Alcácer seine persönliche Schaffenskrise überwunden hat. In Augsburg feierte der Spanier sein erstes Erfolgserlebnis in diesem Jahr, gegen Stuttgart entschied er mit der späten Führung zum 2:1 das Spiel. Nach dem Abpfiff reckte Alcácer die tätowierten Arme in Richtung des wolkenverhangenen Himmels und schloss für einen Moment die Augen. Es war eine kurze Andacht, die zeigte, wie groß die Nervenbelastung im Titelkampf ist. Später wurde Mittelfeldmotor Axel Witsel gefragt, wie er die Aussichten einstufe. Der belgische Nationalspieler gab das zu Protokoll, was im Dortmunder Lager alle denken: "Die Chancen, Meister zu werden, stehen bei 50 zu 50."
Quelle: ntv.de