
"Wildfremde Menschen" lösten "Halb-Angst" auf der Bank von Hertha BSC aus.
(Foto: imago images / Mika Volkmann)
Vor zwölf Jahren stand die Düsseldorfer Fortuna schon einmal in der Relegation. Und gerade die zweite Partie ist bis heute legendär. Denn als plötzlich ein Mann noch vor Abpfiff des Spiels auf dem Rasen hockte und einen der beiden Elfmeterpunkte aus dem Grün herausschnitt, dachte nicht nur der alte Fuchs Otto Rehhagel, er wäre im falschen Film!
"Das ist jetzt bitte wirklich nicht sein Ernst, dass er da versucht, Rasen aus … das ist nicht zu fassen … das ist nicht zu fassen. Da möchte er den Elfmeterpunkt mitnehmen vor Spielende. Das habe ich noch nicht erlebt, das ist unterirdisch, das ist alles nicht wahr …!" ARD-Kommentator Tom Bartels war entsetzt. So etwas hatten er und das Millionenpublikum zu Hause vor den Bildschirmen noch nicht gesehen. Es lief das Rückspiel der Relegation zwischen Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC Mitte Mai 2012 - und mitten auf dem Rasen des vollbesetzten Stadions hockte ein Mann und schnitt in aller Seelenruhe einen der beiden Elfmeterpunkte aus dem satten Grün heraus.
Die Partie war jedoch, anders als es der Mann im Fortuna-Outfit vermutete, noch nicht abgepfiffen. Im Gegenteil sogar. Das Spiel stand noch auf Messerschneide. Denn nach einem 2:1-Sieg im Hinspiel in Berlin versuchte die Fortuna gerade irgendwie ein 2:2-Unentschieden über die Zeit zu retten, als plötzlich Hunderte Düsseldorfer Fans auf den Rasen stürmten.
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Einer von ihnen: Der Elfer-Dieb! Und der meinte später, als ihm das ganze Ausmaß seiner Aktion durch die Schlagzeilen in den Medien und die höhnischen Kommentare in den sozialen Netzwerken bewusst geworden war, kleinlaut und entschuldigend: "Es ertönte ein Pfiff und die Ordner gingen zur Seite. Wir sind freudestrahlend auf den Platz gelaufen. Ich habe erst, als ich vom Rasen runter bin, gemerkt, dass das Spiel noch nicht beendet ist."
Tatsächlich musste Schiedsrichter Wolfgang Stark die Begegnung wegen des Platzsturms der Fortuna-Anhänger für 21 Minuten unterbrechen, doch für den Hertha-Trainer Otto Rehhagel war bereits vorher schon nicht mehr alles in Ordnung gewesen. Ab der 85. Minute, so erzählte er später an einem der Verhandlungstage wegen einer möglichen Wiederholung der Partie, hätten sich "Ordner, Kinder, Mütter und wildfremde Menschen" bei ihm in der Coaching Zone aufgehalten. Für ihn sei deshalb eine reguläre Beendigung der Begegnung ohnehin nicht mehr möglich gewesen. Und die Fortführung des Spiels nach der langen Unterbrechung war nicht nur für den Hertha-Coach nicht akzeptabel. Auch der Torwart der Berliner, Thomas Kraft, sprach vor dem DFB-Gericht von einem gewissen "Gefährdungspotential" und meinte: "Ich habe nur gedacht, was passiert, wenn wir hier das dritte Tor schießen?"
Rehhagel hatte "Halb-Angst"
Die Verhandlungen über ein Wiederholungsspiel gingen damals in die Geschichte der Fußball-Bundesliga ein, weil insbesondere die Aussagen von Otto Rehhagel zu einem medialen Spektakel wurden. Der damals 73-jährige gebürtige Essener schilderte die Ereignisse auf dem Düsseldorfer Rasen hochemotional: "Das war ein Ausnahmezustand, wie ich ihn in 40 Jahren als Bundesligatrainer nicht erlebt habe. Ich hatte Halb-Angst. Ich habe 1943 bei der Bombardierung der Amerikaner in Essen im Keller gesessen, da hatte ich Angst. Ich bin ein erfahrener Mensch, habe die Meute kommen sehen. Da habe ich gedacht: Otto, du brauchst einen Ausweg! So etwas habe ich noch nie erlebt! Und das in Düsseldorf, Klein-Paris. Ich dachte, da lustwandeln die Leute nur."
Doch die DFB-Richter ließen sich auch von anderen gefühlvollen Schilderungen der Erlebnisse bei diesem zweiten Spiel der Relegation zwischen der Düsseldorfer Fortuna und Hertha BSC nicht beeindrucken. Nach drei Prozesstagen wurde Herthas Berufung gegen die Wertung des Relegations-Rückspiels bei Fortuna Düsseldorf abgewiesen. Entscheidend war am Ende vor allem die Aussage des Schiedsrichtergespanns um Wolfgang Stark, das immer wieder darauf hinwies, dass ihrer Meinung nach die Partie ordnungsgemäß zu Ende gebracht wurde.
Doch genau das hatten am Abend der Begegnung selbst einige Hertha- Akteure nicht wahrhaben wollen - und waren gegen den Schiedsrichter vorgegangen. Folgerichtig wurden anschließend die Spieler Thomas Kraft und Andre Mijatović wegen Schiedsrichterbeleidigung mit Sperren für vier beziehungsweise drei Pflichtspiele belegt.
Doch ein anderer Profi hatte sich an diesem Abend komplett gehen lassen - und handelte sich so die bis heute längste Sperre eines Bundesligaspielers ein. Lewan Kobiaschwili hatte Schiedsrichter Wolfgang Stark mit einem Faustschlag am Hinterkopf traktiert und Glück, dass Stark anschließend einen Sturz vermeiden konnte. Doch aufgrund der Tätlichkeit erstattete Stark eine Strafanzeige gegen Kobiaschwili. Der Hertha-Profi wurde vom DFB bis zum Ende des Jahres gesperrt. Ein trauriger Rekord für den Bundesligaabsteiger aus Berlin - den bis zu diesem Zeitpunkt ein ehemaliger Stürmer des TSV 1860 München über viele Jahre innegehabt hatte.
"Nur ein bisschen getreten"
Friedhelm "Timo" Koniezka war damals, am 8. Oktober 1966, zu Hause mit seinen Sechzigern gegen seine ehemalige Borussia aus Dortmund angetreten. Als Konietzka an diesem Tag mit einer Entscheidung des Schiedsrichters Max Spinnler nicht einverstanden war, stieß er den Schiri vor die Brust, riss ihm wütend die Pfeife aus dem Mund, trampelte auf dieser rum und trat Spinnler schließlich auch noch vors Schienenbein.
Später sagte Konietzka - immer noch wenig einsichtig und rasend vor Wut -, er habe den Mann in Schwarz doch nur ein "klein bisschen" mit seinen Stollenschuhen getreten. Konietzka erhielt daraufhin die längste Strafe eines Bundesligaprofis - bis zu diesem unvergessenen Relegationsabend vor zwölf Jahren in Düsseldorf. Sechs Monate musste Konietzka aussetzen.
Kobiaschwili übrigens akzeptierte wie Konietzka damals das Strafmaß des DFB und meinte hinterher: "Ich bin sehr froh, dass das Verfahren abgeschlossen ist." Vermutlich traf er damit die Stimmungslage aller Beteiligten dieses denkwürdigen Relegationsabends. Denn so emotional aufwühlend die Partie am Ende auch war - die Fortuna stieg nach zwei packenden Spielen verdient in die erste Bundesliga auf. Und besonders einer war darüber sehr erleichtert. Denn der Elfer-Dieb hätte sich eine Entscheidung gegen seinen Verein nie verziehen, wie er später einsichtig und geläutert meinte: "Ich würde doch nie etwas tun, was Fortuna schadet."
Quelle: ntv.de