Redelings Nachspielzeit

VAR - Fluch oder Segen? "Ich hau' dir mit der Krücke die Fahne runter"

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Früher war der VAR noch eine Vision. Jetzt leider nicht mehr.

(Foto: IMAGO/Sven Simon)

Und wieder steht der VAR in der Kritik. Die Szenen am Wochenende in Frankfurt haben erneut gezeigt: Am Ende entscheiden immer noch Menschen - und die machen eben nun einmal Fehler. Hermann Gerland hätte sich dennoch vor vielen Jahren sicherlich gerne ein paar mehr Kameras in den Stadien gewünscht!

Der langjährige Co-Trainer des FC Bayern München und frühere Bundesligaprofi, Hermann Gerland, erzählte einmal: "Als ich damals in Kaiserslautern gespielt habe, da flogen dort Fledermäuse durchs Stadion. Und dann stand da ein Linienrichter. Einer von den Lauterern war drei Meter im Abseits, da hat der gewagt, die Fahne zu heben. Aber nur ein Mal. Beim zweiten Mal stand einer sechs Meter Abseits. Da hat der Opa mit der Krücke, der schon beim ersten Mal nicht einverstanden war, hinter ihm gesagt: 'Hebst du noch ein Mal die Fahne, Junge, ich hau’ dir mit der Krücke die Fahne runter!' Und das hat er nicht nur gesagt!" Es ist eine dieser Anekdoten aus einer Zeit, als der Videobeweis noch eine Science-Fiktion-Vision aus der Zukunft war.

Denn man muss wissen: Damals liefen in der "Sportschau" abends maximal nur drei Partien und in die Stadien der Bundesliga verirrte sich häufig nur eine einzige Kamera. Schalkes Meisterspieler von 1958 und spätere langjährige Präsident, Günter Siebert, meinte sogar einmal: "Wenn früher zu einem Spiel das Fernsehen kam, sind wir alle zum Friseur gegangen." Der Fußball damals, man kann es sich gut vorstellen, war noch ein anderer. Denn wo keine Kameras waren, da war viel Spielraum für manch hinterlistige Aktion und manchen Schnitzer von Schiedsrichtern. Die Profis dieser Zeit machen keinen Hehl daraus, dass sie noch komplett andere Möglichkeiten auf dem Platz hatten als heute. Doch dann veränderte sich der Fußball langsam, aber sicher.

Als der Fußball TV lernte

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In der Saison 1985/86 berief der DFB erstmals einen Sachverständigen für die Deutung von Fernsehbildern ein. Der ARD-Mann Rudi Michel sollte damals das Foul des Bremers Bruno Pezzey, für das er am 15. Februar bei der Partie in Nürnberg Rot gesehen hatte, anhand von TV-Bildern beurteilen. Michel: "Man kann ausschließen, dass Pezzey das Bein gestellt hat. Er wollte der Gefahr ausweichen, nachdem er erkannt hatte, dass er den Ball nicht erreichen kann. Seine motorische Bewegung war einwandfrei. Den Bildern aber fehlt die dritte Dimension." Schiedsrichter Wolf-Dieter Ahlenfelder hatte die Szene auf dem Rasen anders gedeutet: "Zweimal Gelb gibt es nicht. Da geht der Hosenknopf auf und ich muss Rot ziehen!" Nun wurde Bruno Pezzey, vor allem wegen der Worte des TV-Mannes Rudi Michel, freigesprochen. Ab diesen Moment war alles anders in der Bundesliga: Der DFB schaute von nun an Fernsehen!

Der Weg zum Videobeweis war dennoch noch ein weiter. Und die Entwicklung von den Tagen, als das Fernsehen in den Stadien der Bundesliga noch eine Seltenheit war, bis zum heutigen Tag, wo der Fehler des VAR im Kölner Keller bei der Partie in Frankfurt der schlichten Tatsache geschuldet war, dass er nicht eine weitere der "mehr als 20 verschiedenen Kameraperspektiven" - wie "Collinas Erben" es heute schreiben - angefordert hat, ist eine spannende und vor allem ereignisreiche. Denn man darf nie vergessen, dass die bloße Anwesenheit von TV-Kameras und das Wissen aller darum, das Spiel in den letzten vierzig Jahren nachhaltig verändert hat.

Der VAR wird bleiben

Viele Dinge, wie "versteckte" Foulspiele, gibt es heutzutage schlicht so nicht mehr. Denn alles wird aufgezeichnet und anschließend auch ausgestrahlt und besprochen. Das wissen die Spieler natürlich und deshalb haben sie ihr Handeln auf dem Rasen diesem Umstand ganz automatisch und unbewusst angepasst. Geradezu grotesk wirken darum auch Szenen, wie neulich in der Champions League in Tottenham, als Sebastián Coates direkt vor dem gegnerischen Kasten die Hand zur Hilfe nahm, um ein Tor zu erzielen. Seine Reaktion im Nachhinein sprach allerdings Bände. Eine selten dämliche Aktion aus einer anderen Zeit!

Zum Autor
  • Ben Redelings ist ein Bestseller-Autor und Komödiant aus dem Ruhrgebiet.
  • Sein aktuelles Buch "60 Jahre Bundesliga. Das Jubiläumsalbum" ist ein moderner Klassiker aus dem Verlag "Die Werkstatt"

  • Mit seinen Fußballprogrammen ist er deutschlandweit unterwegs. Infos & Termine auf www.scudetto.de.

Die Wellen um den Video-Assistenten schlugen am Wochenende nach der Szene zwischen Frankfurts Jesper Lindström und Dortmunds Karim Adeyemi mal wieder hoch. Nicht wenige forderten, wie SGE-Sportvorstand Markus Krösche ("Dann stampft ihn ein!"), die sofortige Abschaffung des VAR. Eine aus vielerlei Hinsicht romantische Vorstellung, die allerdings nicht realistisch ist. Denn die Büchse der Pandora hat der Fußball vor fünf Jahren mit der Einführung des Video-Assistenten geöffnet - und wird sie wohl nie wieder zubekommen. Die Annehmlichkeiten, die eine Überprüfung von relevanten Szenen außerhalb des grünen Rasens, mit sich bringen, sind einfach zu groß. Und auch die Gegner des VAR werden in bestimmten Situationen nicht wieder in alte Zeiten zurückfallen wollen. Denn wie früher die bloße Anwesenheit von Kameras im Stadion das Spiel auf dem Rasen bereits veränderte, so verhindert das Wissen um die Instanz VAR automatisch viele strittige Szenen und mögliche Betrugsversuche.

Doch eine Sache sollte spätestens nach diesem Wochenende allen Fußballfans klar sein: Auch wenn es sich manch einer vor fünf Jahren bei der Einführung des Video-Assistenten anders erträumt hatte, der Fußball wird nie eine zu 100 Prozent gerechte Veranstaltung sein können. Denn am Ende entscheiden immer noch Menschen - und die machen nun einmal Fehler. Und das ist doch irgendwie auch, bei aller (verständlichen) Aufregung, eine schöne und versöhnliche Vorstellung.

Quelle: ntv.de

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