Fußball-WM 2018

WM-Analyse mit Hickersberger "Die beste Nationaltrainer-Bilanz aller Zeiten"

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(Foto: picture alliance / dpa)

Der deutsche Sieg im WM-Viertelfinale gegen Frankreich ist für Josef Hickersberger keine Überraschung, die deutsche Aufstellung schon. Wenn er wählen dürfte, würde der frühere österreichische Nationalcoach trotzdem lieber Brasilien trainieren. Argentinien hält Hickersberger für unterschätzt, Neymar für unersetzlich und Hollands Louis van Gaal für einen außergewöhnlichen Trainer. Einen eindeutigen Turnierfavoriten hat er auch.

n-tv.de: Herr Hickersberger, 60 von 64 WM-Spielen sind vorbei, die Halbfinals stehen fest. Wir könnten auch nochmal 60 Spiele vertragen. Wie schaut es bei Ihnen aus?

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(Foto: imago sportfotodienst)

Josef Hickersberger: Na, 60 Spiele wären etwas zu viel. Aber ich könnte diese WM schon noch ein, zwei Wochen länger genießen. Trotzdem freue mich auf die beiden Halbfinalspiele und das Finale.

Die Fifa wird auch diese WM wieder als beste aller Zeiten loben. Wie fällt Ihre Bewertung bisher aus?

Ich habe vor allem die Vorrundenspiele sehr spektakulär gefunden mit sehr vielen Toren. Die K.o.-Rundenspiele sind nicht unerwartet ganz enge Matches gewesen, wo die Angst vor dem Ausscheiden manchmal zu einem größeren Sicherheitsdenken geführt hat. Diese Spiele waren aber auch unglaublich spannend und manche ein Spektakel.

Welche Partie hat Ihnen besonders gefallen?

Das klingt jetzt vielleicht etwas merkwürdig, aber: Brasilien gegen Kolumbien. Ganz einfach, weil sie mit so viel Leidenschaft und Aggressivität geführt wurde, dass es für zwei südamerikanische Mannschaften geradezu obskur war. Dieser Fight hat mich irgendwie fasziniert, obwohl es natürlich in erster Linie am Schiedsrichter gelegen hat, dass bisweilen zu wenig Fußball daraus wurde.

Insgesamt gab es 54 Fouls, eines hat zum WM-Aus für Brasiliens Neymar geführt. Werden die Superstars bei der WM zu wenig geschützt, wie Ex-Profi Mehmet Scholl beklagt?

Ich glaube, dass dieses Spiel die Ausnahme von der Regel war. Die Superstars wurden sehr wohl von den Schiedsrichtern in Schutz genommen. Leider ist Neymar durch eine rüde Attacke ausgefallen. Die Ausfälle anderer Stars wie Sergio Agüero oder Angel di Maria haben mit Foulspielen aber nichts zu tun gehabt.

Die letzten vier Teams im Turnier sind Deutschland, Brasilien, die Niederlande und Argentinien. Wenn Sie sich eine Mannschaft aussuchen und im Halbfinale trainieren könnten - wen würden Sie wählen?

Schwierige Frage. (überlegt) Ich glaube, ich würde mir Brasilien nehmen, als Trainer des Gastgebers. Die Unterstützung und Hoffnung von 200 Millionen Brasilianern zu spüren, das muss ein unglaubliches Gefühl für Nationaltrainer Felipe Scolari sein. Ich habe so eine ähnliche Situation in einem viel kleineren Land bei der Europameisterschaft 2008 erlebt, das ist schon etwas ganz Besonderes.

Aber ist das nicht auch ein enormer Druck?

Das ist es. Aber mit dem Druck lernt man umzugehen, auch wenn er noch so groß ist. Das Gefühl, diese Unterstützung zu spüren, ist etwas ganz Einmaliges, eine unglaubliche Genugtuung und Erfahrung.

Vor dem Frankreich-Spiel hat Bundestrainer Joachim Löw gesagt, er wäre tiefenentspannt. Haben Sie ihm das abgenommen?

Ja, Jogi Löw hat jetzt mehr als 110 Länderspiele, das ist ein riesiger Erfahrungsschatz. Er hat auf mich authentisch gewirkt. Das war nicht gestellt, das hat er auch so empfunden. Von den letzten 31 Pflichtspielen hat er 28 gewonnen und nur eins verloren, hat DFB-Präsident Wolfgangs Niersbach noch einmal herausgestellt. Das ist die beste Bilanz eines Nationaltrainers aller Zeiten.

Haben Sie erwartet, dass Joachim Löw die Zeit taktisch und personell mit Philipp Lahm in der Abwehr, der Doppelsechs im Mittelfeld und Miroslav Klose im Sturm zurückdreht?

Nein, das war für mich eine ganz große Überraschung. Ich hätte geglaubt, dass Löw an seiner Abwehrkette mit vier Innenverteidigern festhält. Auch weil ich vermutet habe, dass Schweinsteiger, Khedira und Klose nicht alle drei über 90 Minuten geschweige denn über 120 Minuten gehen können und das Austauschkontingent damit sehr ausgereizt ist. Aber der Erfolg gibt jedem Trainer recht, auch Jogi Löw.

Löw ist für diese Umstellungen sehr gelobt worden. Ist das wirklich angebracht? Schließlich haben die 80 Millionen anderen Bundestrainer die Wechselnotwendigkeit schon viel früher im Turnier erkannt und angemahnt.

Das sind die schwierigsten Umstellungen, und dafür gebührt Jogi Löw zu Recht Lob. Die anderen 80 Millionen deutschen Teamchefs sehen das ja nur aus ihrer beschränkten Perspektive vor dem TV-Gerät. Die sehen nicht, was im Training passiert, wie sich die Spieler da präsentieren. Das ist eine ganz andere Perspektive. Gerade deswegen fällt eine Umstellung dann nicht immer leicht. Die Mannschaft hat in dem Fall auch für Joachim Löw gewonnen.

Inwiefern?

Weil es einem Trainer dann irgendwo auch so ausgelegt wird, als wäre man dem Druck der Öffentlichkeit und den Medien erlegen. Das ist eine schwierige Situation, in der man eigentlich nur gewinnen kann, wenn die Mannschaft das Spiel gewinnt.

Hätten Sie dem DFB-Team das nach dem Algerien-Spiel zugetraut?

Nach diesem Spiel war ich sogar überzeugt davon, dass Deutschland gegen Frankreich gewinnt. Ich kenne dann die psychologischen Mechanismen, da kommt es zu einer Trotzreaktion. Vor allem nach der starken Kritik, die von der Mannschaft als unberechtigt empfunden wurde.

Welche psychologischen Effekte erwarten Sie für das Spiel gegen Brasilien nach den Ausfällen von Neymar und Thiago Silva?

Ich glaube nicht, dass die Aufgabe für Deutschland jetzt einfacher wird. Im Gegenteil. Coach Scolari wird, Psychologe wie er ist, bei Brasilien eine "Jetzt erst recht"-Stimmung aufbauen. Neymars Verletzung kann sogar etwas Druck von der Mannschaft nehmen. Der Gewinn des WM-Titels ist nicht mehr so ein unbedingtes Muss wie mit Neymar. Aber Brasilien hat seit Peles Zeiten in den 1970er-Jahren kein Länderspiel zu Hause verloren. Daran kann jeder sehen, wie schwierig es für Deutschland sein wird, ins Finale zu kommen.

Trotzdem fehlt mit Neymar der wichtigste Offensivspieler.

Natürlich ist Neymar, so wie Brasilien diese WM bestritten hat, als Einzelspieler und auch in der Spielanlage nicht zu ersetzen. Brasilien wird das mit einer Spielweise kompensieren, die wieder sehr aggressiv, sehr körperbetont sein wird. Man wird versuchen, das deutsche Mittelfeld aus dem Spiel zu nehmen, den Aufbau zu unterbinden, sei es durch starkes Pressing oder auch durch taktische Fouls.

Muss das DFB-Team im Halbfinale einen brasilianischen Heimbonus durch den Schiedsrichter fürchten?

In den Gruppenspielen war der Schiedsrichter vor allem im Spiel gegen Kroatien ein Faktor. Im Semifinale glaube ich aber nicht an freundliche Pfiffe für Brasilien. Die WM ist jetzt in einem Status, wo das Weiterkommen des Gastgebers nicht mehr so wichtig ist für das Gelingen des Turniers. Selbst bei einem Aus hätte Brasilien noch das Spiel um Platz drei. Ich hoffe, der Schiedsrichter leitet das Spiel so, dass bei aller Rivalität und Aggressivität, die es im Fußball geben muss, ein faires Spiel zustande kommt. Dann wird es ein sehr ausgeglichenes Spiel geben mit nicht besonders vielen Toren. Mit Verlängerung und sogar einem Elfmeterschießen muss man als Zuschauer rechnen.

Stichwort Elfmeter: Hollands Coach Louis van Gaal hat Costa Ricas WM-Märchen mit der Einwechslung von Elferkiller Tim Krul beendet. Auf welcher Seite steht dieser Schachzug im großen Trainerhandbuch?

Das steht nur im Buch von Louis van Gaal, das ist ein ganz dickes Buch. Holland hätte die Partie mit etwas mehr Spielglück schon vorher entscheiden können und müssen, sie haben viel Pech gehabt. Aber so ist Fußball, Elfmeterschießen kann man immer verlieren. Der Schachzug mit Tim Krul ist da natürlich voll gelungen.

Was zeichnet van Gaal bei der WM sonst noch aus?

Ihm ist es vor allem gelungen, ein gutes Mannschaftsklima zu erzeugen, das ist in Holland immer schon die halbe Miete. Da zeichnet er sich ganz einfach als Leader des holländischen Teams aus. Er hat sehr viel Erfahrung in der Menschenführung und ist ein außergewöhnlicher Trainer.

Van Gaal hat in Brasilien oft mit einer Fünferkette spielen lassen. Als Sie bei der EM 2008 mit Österreich gegen Deutschland drei Innenverteidiger aufgeboten haben, …

… bin ich dafür im eigenen Land sehr stark kritisiert worden. Damals war die Viererkette das taktische Nonplusultra. Aber es geht in erster Linie darum, die bestmögliche Variante für die Qualitäten der eigenen Mannschaft zu finden. Die Frage ist immer: Was steht mir zur Verfügung und mit welchen Spielsystemen kann ich das dann optimieren? Die Systeme entscheiden nicht die Spiele, sondern die Qualitäten der Spieler.

Im Halbfinale trifft Oranjes Qualität auf Argentinien – ein "gewöhnliches Team", wie Belgiens Coach Marc Wilmots nach der Viertelfinal-Niederlage seiner Mannschaft sagte. Was sagen Sie?

Argentinien war gegen Belgien viel besser organisiert als in den Partien zuvor, hat eine viel bessere Mannschaftsleistung geboten - ihre beste bisher bei dieser WM. Sogar Lionel Messi war defensiv engagiert, hat Druck auf den Ballführenden ausgeübt, Zweikämpfe gewonnen. Trotz des Ausfalls von Angel di Maria, der das Team natürlich schwer trifft, muss man Argentinien bei dieser WM erstmal schlagen.

Wer ist vor den Halbfinals Ihr Titelfavorit?

Brasilien. Trotz des Ausfalls von Neymar.

Mit Josef Hickersberger sprach Christoph Wolf

Quelle: ntv.de

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