Glückspilz Özil, fröhliche Bank Löw schwärmt in der Grillbude vom WM-Titel
05.07.2014, 06:24 Uhr
Nach dem Sieg gegen Frankreich spielt die DFB-Elf im Halbfinale der Fußball-WM gegen den Gastgeber Brasilien.
(Foto: AP)
Der Bundestrainer überrascht, Hummels hält den Kopf hin, Özil parkt im Schatten, Neuer überragt und Deutschlands Fußballer stehen nach dem Kraftakt gegen Frankreich im Halbfinale der WM. Dort geht es nun gegen Brasilien.
Erschöpft war er, wie das so ist, wenn man zur Mittagszeit unter der Sonne Rio de Janeiros anderthalb Stunden Fußball der anstrengenderen Art spielt. Aber Thomas Müller war, wie könnte es anders sein, auch hinterher bestens gelaunt. Als er mit Per Mertesacker durch den Interviewparcours schlenderte und den Kollegen Podolski erblickte, da rief er: "One question in kölsch please!" Die drei amüsierten sich köstlich über den Scherz.
Tor: 0:1 Hummels (13.)
Frankreich: Lloris - Debuchy, Varane, Sakho (72. Koscielny), Evra - Pogba, Cabaye (73. Rémy), Matuidi - Valbuena (ab 85. Giroud), Benzema, Griezmann. - Trainer: Deschamps
Deutschland: Neuer - Lahm, Boateng, Hummels, Höwedes - Khedira, Schweinsteiger - Müller, Kroos (90.+2 Kramer), Özil (83. Götze) - Klose (69. Schürrle). - Trainer: Löw
Schiedsrichter: Nestor Pitana (Argentinien) - Zuschauer: 74.240
Aber die gute Laune hatte einen tieferen Grund. Die deutsche Fußball-Nationalelf hat an diesem Freitag mit 1:0 gegen Frankreich gewonnen und damit das Halbfinale der Weltmeisterschaft in Brasilien erreicht. Am Dienstag geht es nun in Belo Horizonte gegen die Auswahl der Gastgeber. Der Dortmunder Mats Hummels hatte vor 74.240 Zuschauern im Maracanã nach 13 Minuten das Tor erzielt und somit für eine gelöste Stimmung nach dem Abpfiff gesorgt - auch bei denen, die gar nicht mitspielen durften. Podolski war eh kein Kandidat für die Startelf, Mertesacker der Rotation des Bundestrainers zum Opfer gefallen. Joachim Löw hatte mit seiner Aufstellung wieder einmal überrascht. Und er hat gewonnen.
Seine Mannschaft hat mit einer kompakten Defensive, einem taktisch disziplinierten Auftreten und nicht zuletzt einer respektablen Energieleistung dem hochgehandelten französischen Team seine Grenzen aufgezeigt und mit der besten Turnierleistung den Sieg erzwungen. Die DFB-Elf gehört zu den besten vier Mannschaften des Planeten, zum vierten Mal in Folge. Jetzt heißt das Ziel erneut Maracanã, der Sehnsuchtsort dieser WM. Dort findet am 13. Juli das Endspiel statt. Und wie sagte der Bundestrainer, als er nach der Partie gefragt wurde, wohin denn der Weg noch führe? "Titel, klar Titel sind immer wunderbar." Woher will er das eigentlich wissen? Die deutschen Spieler in der Einzelkritik:
Manuel Neuer: Nach seiner spektakulären Leistung als Libero im Achtelfinale gegen Algerien konnte sich der 28 Jahre alte Münchner in seinem 50. Länderspiel nun wieder auf seine Kernkompetenz als Torwart konzentrieren. Und das machte er so gut und abermals so spektakulär, dass wir ihm prompt einen eigenen Text gewidmet haben. Neuer darf sich mit dem Kollegen Hummels den inoffiziellen Titel des Matchwinners teilen. Aber sein französischer Kollege Hugo Lloris hatte es ja schon vor dem Anpfiff gesagt: "Neuer ist der kompletteste Torhüter der Welt." Der sagte nach der Partie: "Die Freude auf das Halbfinale ist jetzt riesengroß. Wir werden sehen, welches Spektakel es dann geben wird."
Philipp Lahm: Didier Deschamps zeigte sich keineswegs überrascht, dass der 30 Jahre alte Kapitän der deutschen Mannschaft in seinem 111. Länderspiel tatsächlich den rechten Außenverteidiger gab. "Das ist seine natürliche Position", sagte der Trainer der Franzosen. In der Tat war es nicht die schlechteste Idee Löws, Lahm aus dem Mittelfeld abzuziehen und in die Viererabwehrkette zu stellen. Allerdings auch nicht seine originellste, aber darauf kommt es ja nicht an. Doch selbst ein Alleskönner wie Lahm benötigt mitunter ein wenig Zeit, sich auf seine neue alte Aufgabe einzustellen. Zu Spielbeginn jedenfalls ließ er sich von Karim Benzema überlaufen und ermöglichte so dem Stürmer von Real Madrid die erste Chance auf ein Tor. Überhaupt hatte Lahm defensiv einiges zu tun, da der Gegner meist mit besagtem Benzema und dessen Kollegen Antoine Griezmann über seine Seite konterte. Ansonsten aber fing er sich schnell und organisierte ballsicher halt über die rechte Seite statt aus dem defensiven Mittelfeld heraus das Aufbauspiel. "Wir wollten über rechts Dampf machen, das ist uns phasenweise gelungen." Auch sonst war er positiv gestimmt: "Es war nicht so leicht heute, es war brutal warm. Aber egal, wir standen wieder als Mannschaft auf dem Feld."
Jeróme Boateng: Dass der 25 Jahre alte Münchner in seinem 44. Länderspiel nur der zweitbeste deutsche Innenverteidiger war, lag nicht daran, dass er schlecht gespielt hat. Sondern daran, dass Mats Hummels überragte. Boateng, der Wanderarbeiter im Team, darf sich als Gewinner der Löw’schen Rotation fühlen. Weil Lahm rechts verteidigte, spielte er gegen Frankreich auf seiner Lieblingsposition, die er auch beim FC Bayern innehat. Hatte gehörig damit zu tun, diesen Benzema in den Griff zu kriegen, was ihm weitgehend gelang. Ansonsten überzeugte er durch seine Schnelligkeit, die ihm auch in der Offensive zugutekommt. Zudem gelangen ihm einige prima Pässe im Spielaufbau. Kurzum: Er fiel nicht so auf wie sein Nebenmann zur Linken, hat sich aber nachdrücklich für das Halbfinale gegen Brasilien empfohlen. Und zwar genau auf dieser Position. "Es sind sicherlich noch Sachen zu verbessern, aber wir können stolz sein. Wir sind im Halbfinale, jetzt muss es Finale sein."
Mats Hummels: Der Mann des Spiels, auch ganz offiziell vom Weltverband Fifa gekürt. Der 25 Jahre alte Dortmunder kann sich daher ruhig den Titel des Matchwinners mit seinem Torwart teilen. Erzielte nach einer knappen Viertelstunde das Tor des Tages, mit dem Kopf, nach einem Freistoß von Toni Kroos. Kommt uns bekannt vor. Ach ja, beim Auftaktsieg gegen Portugal war’s fast genauso. Klingt nach einer titelreifen Kombination, das können sie gut. Ansonsten stand Hummels in seinem 34. Länderspiel stets schon dort, wo der Ball erst noch hinkam. Bewahrte sein Team in drei entscheidenden Szenen nach elf, 34 und 76 Minuten gegen einen Mann namens Benzema vor einem Gegentor, war also nach seinem grippalen Infekt und einer Pause im Achtelfinale gegen Algerien wieder mit voller Abwehrkraft dabei. Und hatte noch die Energie, am Offensivspiel seines Teams mitzuwirken.
Benedikt Höwedes: Blieb trotzt Rotation der Startelf als Linksverteidiger erhalten, dabei hatten viele damit gerechnet, dass es ihn erwischt. Schließlich ist der 26 Jahre alte Schalker eigentlich Innenverteidiger. Hatte in seinem 26. Länderspiel seine spektakulärste Szene, als er nach einer halben Stunde und einem Freistoß den Ball mit der Ferse in Richtung französisches Tor bugsierte. War der einzige Spieler seiner Mannschaft, der bereits in Halbzeit eins ein verdrecktes Trikot sein Eigen nennen durfte. Ansonsten: absolut solide gegen den flinken Mathieu Valbuena. Über das Offensivspiel reden wir nicht, das ist halt nicht sein Metier. Er formulierte das nach der Partie so: "Wir haben als Mannschaft sehr gut agiert und in der Defensive als Kollektiv kompakt gestanden."
Bastian Schweinsteiger: Übernahm den Job des Kollegen Lahm als Aufräumer vor der Abwehr. Die Frage war, wie lange die Kräfte des 29 Jahre alten Münchners in seinem 106. Länderspiel reichen. Die Antwort lautet, dass die letztlich 95 Minuten in der Hitze von Rio zu viel für ihn waren. Was nicht heißt, dass er völlig ohne Erfolg versucht hätte, die Rolle des kampferprobten und rustikalen Chefs in der Defensivzentrale auszufüllen. Er kämpfte, rackerte, spielte kluge Pässe, mühte sich also redlich und war zur Stelle, wenn es darum ging, prekäre Situationen vor dem eigenen Strafraum zugunsten der DFB-Elf zu bereinigen. Aber sein Spiel wirkt nicht mehr so dynamisch, wie es einmal war. Und das ist es wohl auch nicht. Tat gut daran, seine Laufwege ökonomisch zu gestalten und es anderen zu überlassen, nach vorne zu stürmen. Sah nach 80 Minuten die Gelbe Karte, weil er einen französischen Konter nur noch mit einem Foul stoppen konnte. War aber nicht schlimm, war seine erste in diesem Turnier, die Karte wird nach diesem Viertelfinale gestrichen. Falls er also im Halbfinale spielt und wieder verwarnt wird, droht ihm im Fall der Fälle keine Sperre fürs Endspiel.
Sami Khedira: Die Frage war, wie lange die Kräfte des 27 Jahre alten Madrilenen in seinem 50. Länderspiel reichen würde, zumal ihm der Bundestrainer einen offensiveren Part als dem Kollegen Schweinsteiger zugedacht hatte. Die Antwort lautet: Ach, lesen Sie es doch einfach bei Schweinsteiger nach. Es ist halt bei Khedira so, dass auch er einen Kreuzbandriss nicht so einfach wegsteckt. Nach ordentlichem Beginn war er am Ende schlichtweg entkräftet. Er ließ sich mehrmals von seinen Gegenspielern überlaufen, scheute die Zweikämpfe und kassierte nach 55 Minuten und einem taktischen, also mannschaftsdienlichen Foul am Franzosen Griezmann zurecht die Gelbe Karte. Fazit: Bei Schweinsteiger und Khedira stößt die Löw'sche Rotation an ihre Grenzen. Aber sie können sich nicht wie zu Beginn des Turniers den Job teilen, wenn Lahm im Mittelfeld spielt. Fortsetzung der Diskussion folgt. Versprochen.
Thomas Müller: Von ihm war ja schon die Rede, aber der 24 Jahre alte Münchner hat nach seinem 54. Länderspiel noch einen rausgehauen: "Es war schon wie in einer Grillbude. Da merkt man erstmal, was für ein Gebilde ein Kaktus ist, da nicht einzugehen." Spielte zum ersten Mal bei dieser WM vom Anpfiff weg auf seiner angestammten Position auf dem rechten Flügel, was insofern blöd war, weil das die Seite in der prallen Sonne war. Rannte und kämpfte aber auch noch gegen Ende der Partie wie ein Grillmeister auf Speed, dann allerdings im Schatten. Nur mit dem Toreschießen lief es im Maracanã nicht so, "alles, was ich probiert habe, hat heute irgendwie nicht geklappt". Auch wenn er nach Kloses Auswechslung wieder in die Mitte rückte. Machte aber nichts, denn nie war dieser Müller wertvoller für seine Mannschaft als in diesen Wochen in Brasilien.
Toni Kroos: Der 24 Jahre alte Münchner war in seinem 49. Länderspiel entscheidend am Tor beteiligt. Erst hole er den Freistoß heraus, dann trat er den Ball in den Strafraum - der Rest ist bekannt. Macht seine Sache als ebenso kreativer wie zuverlässiger Ballverteiler im offensiven Mittelfeld prima, auch wenn nicht jeder Ball beim Mitspieler ankam. Schoss zudem mehrmals aus weiter Ferne auf des Gegners Tor und nervte erfolgreich Frankreichs Jungstar Paul Pogba. Für die letzten drei Minuten der Nachspielzeit kam der als Dauerläufer bekannte, 23 Jahre alte Mönchengladbacher Christoph Kramer in die Partie, zu seinem zweiten Einsatz bei dieser WM und seinem dritten Länderspiel insgesamt.
Mesut Özil: Wer in diesen Tagen mit Brasilianern über Fußball redet und die Frage nach der Herkunft mit Deutschland beantwortet, sieht sich flugs mit einer zweiten Frage konfrontiert: "Was ist los mit Mesut Özil?" Das wissen wir leider auch nicht. Der 25 Jahre alte Mittelfeldspieler hatte sich viel vorgenommen für dieses Turnier, das hat er mehrmals in Interviews angekündigt. Allein: Es will nicht klappen. Dabei war Özil in seinem 60. Länderspiel eigentlich der Glückspilz der ersten Halbzeit. Er durfte nämlich auf dem linken Flügel die ganze Zeit im Schatten spielen. Doch das half ihm auch nicht. Er lief zwar auf seiner Seite auf und ab, holte sich sogar gelegentlich den Ball und bot sich stets als Anspielstation an, aber sein Durchbruch bei dieser WM war das wirklich nicht. Nach 83 Minuten erlöste ihn der 22 Jahre alte Münchner Mario Götze. Rechnet man die fünfminütige Nachspielzeit hinzu, währte sein 34. Länderspiel immerhin zwölf Minuten. Und durfte mit den Kollegen auf dem Rasen den Einzug ins Halbfinale feiern.
Miroslav Klose: War wenig am Ball, auch wenn er emsig über den Rasen sprintete. So muss er weiter auf seinen rekordbringenden 16. Treffer bei einer Weltmeisterschaft warten. Der 36 Jahre Stürmer bewies in seinem 135. Länderspiel vor allem vor der Pause, wie flexibel er ist und wich gerne mal auf die linke Seite aus, um dem Kollegen Özil Gesellschaft zu leisten - im Schatten. Nach 26 Minuten sank er im Strafraum zu Boden und hätte gerne einen Elfmeter bekommen. Doch der Trikotzupfer des Franzosen Mathieu Debuchy war dem argentinischen Schiedsrichter Nestor Pitana nicht sanktionswürdig genug. Zwanzig Minuten vor dem Ende der Partie kam André Schürrle für ihn. Der 23 Jahre alte Flügelspieler vom FC Chelsea hatte seine Mannschaft gegen Algerien mit seinem Tor zu Beginn der Verlängerung noch auf die Siegerstraße gebracht und auf einen Platz in der Startelf spekuliert. Gegen Frankreich allerdings verpasste er es in seinem 37. Länderspiel gleich zweimal, in der 81. und 87. Minute, nach sehenswerten Kontern für die Entscheidung in diesem Viertelfinale zu sorgen. Zeigte aber dennoch, dynamisch und schnell wie er ist, warum er der ideale Einwechselspieler ist - ob ihm das nun gefällt oder nicht.
Quelle: ntv.de