DFB-Analyse mit Hickersberger WM-Titel mit vier Innenverteidigern? "Nein!"
27.06.2014, 12:48 Uhr
Spielen bei der WM in Brasilien nicht unbedingt in ihrer Paraderolle: Benedikt Höwedes und Jérôme Boateng.
(Foto: AP)
Mit 1:0 gewinnt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zum Vorrundenabschluss gegen die USA. Josef Hickersberger ist nicht begeistert. Trotz sieben Punkten aus drei WM-Spielen sieht der frühere österreichische Nationaltrainer noch keine echte Titelreife beim DFB-Team. In seiner Vorrundenbilanz bei n-tv.de analysiert er, warum aus Benedikt Höwedes kein idealer Außenverteidiger mehr wird, auf welcher Position Kapitän Philipp Lahm der Mannschaft am meisten hilft und warum ein griechischer WM-Triumph ausgeschlossen ist. Lobende Worte findet er für Thomas Müller – und für den "sensationellen Erfolg" von Jürgen Klinsmann.
n-tv.de: Deutschlands Auftaktsieg über Portugal war - dank Pepe - ein Sieg der Leichtigkeit, das Remis gegen Ghana ein wildes Hitzespektakel. Wie fanden Sie das 1:0 gegen die USA?

Zwischen 1987 und 1990 sowie zwischen 2006 und 2008 war Josef Hickersberger Trainer der österreichischen Nationalmannschaft. In Brasilien ist er als WM-Experte vor Ort.
(Foto: imago sportfotodienst)
Josef Hickersberger: Ich war nicht begeistert von diesem Spiel. Das Erfreulichste für Deutschland war: 1:0 gewonnen, Gruppensieger geworden. Kein Spieler hat sich verletzt und die Spieler, die Spielpraxis brauchten, haben sie bekommen. Jetzt geht’s im Achtelfinale gegen Algerien. Das ist auch eine lösbare Aufgabe.
Was hat Ihnen nicht gefallen?
Das Niveau des Spiels war nicht besonders hoch. Es hat sehr viele unerzwungene Fehlpässe gegeben. Besonders auffallend war das auf deutscher Seite. Sowohl Bastian Schweinsteiger als auch Philipp Lahm sind viele einfache Pässe im Spielaufbau misslungen. Die Klasse der amerikanischen Mannschaft ist insgesamt eher beschränkt. Noch dazu hat die USA zu Beginn sehr viel Respekt gezeigt, sich defensiv verhalten und sehr tief verteidigt. Erst nach zehn, fünfzehn Minuten ist sie dann einmal längere Zeit im Ballbesitz gewesen. So hat das deutsche Spiel zu Beginn eigentlich sehr dominant ausgesehen mit gefühlt 70 Prozent Ballbesitz. Echte, gute Tormöglichkeiten sind aber kaum herausgespielt worden.
Sie waren selber Spieler und Trainer. Welchen Einfluss hat so ein Dauerregen wie in Recife auf die Partie?
Ich glaube, dass das Spielfeld eigentlich sehr gut bespielbar war. Für mich hat der nasse Rasen aber einen gewissen Vorteil für die deutsche Viererkette gebracht. Für die USA war es dadurch schwierig, das taktische Mittel eines langen Balls über die deutsche Verteidigung einzusetzen. Wenn der Ball aufkommt, wird er noch schneller und kommt noch schneller zu Torwart Manuel Neuer, der einen hervorragenden Libero hinter der Abwehr spielt.
Joachim Löw hat zwei Wechsel in der Startelf vorgenommen. Schweinsteiger für Sami Khedira und Lukas Podolski für Mario Götze. Haben die sich ausgezahlt?
Sami Khedira mal eine Pause zu geben und Schweinsteiger von Anfang an zu bringen, war eine gute Entscheidung. Von Lukas Podolski habe ich nicht so viel gesehen, er ist nicht so richtig ins Spiel gekommen. Er wurde aber auch nicht mit den Bällen versorgt, die er ganz einfach braucht, um torgefährlich zu werden. Ich weiß aber auch nicht, ob das der Grund war, dass ihn Löw zur Pause gegen Miroslav Klose ausgewechselt hat.
Erwarten Sie, dass die Startelf-Umstellungen dauerhaft sind?
Das glaube ich nicht. Dazu war die Teamleistung gegen die USA nicht überzeugend genug.
Welche anderen personellen Alternativen bieten sich Bundestrainer Löw in seinem 23er WM-Kader noch für den weiteren Turnierverlauf?
Ich glaube, dass Jogi Löw derzeit nicht über mehr als dreizehn, vierzehn Spieler verfügt, die sein uneingeschränktes Vertrauen in schweren Spielen genießen. Es sind doch einige Spieler dabei, die kaum Spielpraxis in der Nationalmannschaft haben, die wenig Länderspielerfahrung haben, und das ist bei einer Weltmeisterschaft unbedingt notwendig – wenn man Weltmeister werden will.
Das Minimalziel des DFB-Teams ist das WM-Finale. Wie fällt ihre Vorrundenbilanz diesbezüglich aus?
Für Deutschland insgesamt positiv. Man hat sich aber vielleicht nach dem vom Spielverlauf her sehr leichten Erfolg gegen Portugal etwas täuschen lassen. Der hohe, zu hohe Sieg täuschte eine Form der deutschen Mannschaft vor, die nicht in diesem Ausmaß vorhanden ist. Aber wer die Fußballgeschichte kennt, der weiß, dass Deutschland eine Turniermannschaft ist, die sich mit Fortdauer eines Turniers immer wieder steigern konnte. Das traue ich der deutschen Nationalmannschaft zu - aber das ist auch ein unbedingtes Muss, wenn sie zumindest das Finale erreichen will. In der Vorrundenform zählt die deutsche Mannschaft für mich nicht zu den großen Mitfavoriten der WM, das hat mich noch nicht überzeugen können.
Wer hat Sie denn überzeugt?
Das ist eine berechtigte Frage. So richtig überzeugt hat vielleicht Frankreich, die teilweise überraschend souverän gewirkt haben. Aber im Moment sehe ich keinen absoluten Topfavoriten.
Heißt das, auch Überraschungsteams wie Costa Rica oder sogar Griechenland haben Titelchancen - so wie bei der EM 2004?
(lacht) Nein, Griechenland kann so etwas nicht mehr gelingen, das ist völlig ausgeschlossen. Dazu fehlt ihnen erstens Otto Rehhagel und zweitens das Potenzial. Auch Costa Rica hat zwar in der Todesgruppe mit Italien, Uruguay und England überraschend als Erster das Weiterkommen geschafft. Aber als kommenden Weltmeister kann man Costa Rica nicht bezeichnen.
Ein Dauerthema in der Vorrunde ist die deutsche Innenverteidiger-Abwehrkette. Wie bewerten Sie die deutschen Aushilfs-Außenverteidiger gegen die USA?
Jérôme Boateng hat seine Rolle vor allem in der ersten Spielhälfte auch nach vorn sehr positiv erledigt. Er ist mehrmals in gute Positionen gekommen, wo er gefährliche Bälle nach innen gespielt hat. Bei Höwedes sieht man ganz einfach, dass er wahrscheinlich noch Zeit braucht, um in diese Rolle auf der linken Verteidigerseite hineinzuwachsen. Ob ihm das während der WM gelingt, bleibt dahingestellt. Mit seiner Kopfballstärke, seiner Wucht kann er der Mannschaft bei hohen Bällen sowohl in der Offensive als auch in der Defensive sehr helfen. Dass er aber kein idealer linker Außenverteidiger ist, das sehen, glaube ich, auch viele Menschen in Deutschland so – ohne Trainerausbildung.
In Deutschland wird debattiert, ob zum Beispiel Kapitän Philipp Lahm auf seiner alten Position links hinten eine bessere Wahl wäre – obwohl er die nicht mehr spielen will.
Von meiner Warte aus wäre Lahm als Außenverteidiger eine logische Entscheidung. Wenn er damit auch der Mannschaft helfen kann, dann wird er das sicherlich auch tun. Nur ist niemand so nahe beim Team und kennt die Situation und die Möglichkeiten im Kader so gut wie Jogi Löw. Er ist prädestiniert dafür, zusammen mit seinem Trainerstab die richtige Entscheidung zu treffen. Natürlich auch im Einvernehmen mit Philipp Lahm, denn immerhin ist er sein Kapitän.
Können Sie sich vorstellen, dass sich Lahm dagegen wehrt. Dass er intern sagt, er möchte auf der Sechs spielen?
Ich kann mir vorstellen, dass Philipp Lahm lieber auf der Sechs spielt als Außenverteidigung, weil das ganz einfach eine Position ist, die er jetzt meistens bei Bayern München gespielt hat. Dort fühlt er sich sehr wohl, dort hat ihn Pep Guardiola als klügsten Spieler bezeichnet, mit dem er zusammengearbeitet hat. Dass die Aufgabe auf den Außenpositionen laufintensiver ist und bei schwierigen klimatischen Bedingungen viel kräftezehrender, das ist völlig klar.
Wie fanden Sie Lahm bei der WM bislang im Mittelfeld?
Er ist noch nicht in der absoluten Hochform, die ihn bei Bayern München unter Guardiola als Mittelfeldspieler ausgezeichnet hat. Da war er überragend. Bei der WM unterlaufen ihm im Aufbauspiel ungewohnte Fehlpässe, die gegen Ghana auch zu einem Gegentreffer geführt haben. Aber über Lahms Klasse gibt es an und für sich überhaupt keine Diskussionen. Meine Frage ist nur, ob er der deutschen Mannschaft auf einer Außenverteidigerposition mehr helfen kann als im Mittelfeld.
Wie schwer wäre für einen erfahrenen Spieler wie Lahm so ein Positionswechsel innerhalb eines Turniers?
Für einen Philipp Lahm ist das kein Problem. Er würde sich dort sofort wieder zurechtfinden.
Kann man mit vier Innenverteidigern in der Abwehr Weltmeister werden?
Nein!
Auch Mesut Özil hat noch nicht restlos überzeugt. Vor dem USA-Spiel hat er sich vorsichtig über seine Position im rechten Mittelfeld beschwert. Ist Özil in Löws neuem 4-3-3-System ohne Spielmacher verschenkt?
Er ist nicht verschenkt. Aber er ist nicht in bester Form. Daher hadert er natürlich auch ein bisschen mit seiner Rolle und sucht Gründe dafür, dass er nicht so ins Spiel kommt, wie er das auf der Position hinter einer zentralen Spitze gewohnt ist. Das ist eine ganz andere Rolle, die er jetzt zu erfüllen hat, und bisher konnte er noch nicht so glänzen wie in seiner besten Zeit bei Real Madrid.
Platzt der Knoten in Brasilien noch?
Das kann durchaus sein. Ich mag ihn ganz einfach als überragenden Techniker und kreativen Spieler. Es kann schon im nächsten Spiel der Knopf aufgehen und er kann wieder absolute Topform bringen. Da fehlt vielleicht nur die eine oder andere gelungene Situation oder ein Tor. Dann ist er wieder der alte Özil.
Wer war aus deutscher Sicht ihr Spieler der Vorrunde?
Das war eindeutig Thomas Müller. Er hat mit seinen Toren für den Gruppensieg gesorgt. Da steht er über allen anderen, ohne Zweifel.
Deutschlands Gruppensieg durfte man erwarten. Was sagen Sie zum zweiten Platz von Jürgen Klinsmann mit den USA?
Sensationell! Dass sich Jürgen Klinsmann und die USA vor Portugal mit Cristiano Ronaldo und vor Ghana, die in den letzten Weltmeisterschaften immer eine gute Rolle gespielt haben, als Gruppenzweiter qualifiziert haben, ist ein sensationeller Erfolg. Das ist ein persönlicher Erfolg für ihn als Trainer, und dazu kann man ihm wirklich nur gratulieren.
Was ist für die USA im Achtelfinale gegen Belgien möglich?
Belgien hat bisher zwei Spiele mit späten Toren gewonnen, aber ist der Rolle als Geheimfavorit bisher überhaupt nicht gerecht geworden. Ich glaube nicht, dass Belgien der haushohe Favorit ist und die USA da chancenlos sind. Da kann es durchaus eine Überraschung geben.
Mit Josef Hickersberger sprach Christoph Wolf.
Quelle: ntv.de