Abschlussfeier am Volkstrauertag Das schlechte Timing der Olympia-Planer
22.02.2014, 12:12 Uhr
Nur vier statt der üblichen fünf Ringe: Bei der Eröffnungsfeier gab es einen kleinen Schönheitsfehler.
(Foto: picture alliance / dpa)
Mit viel Glanz und Bombast enden an diesem Wochenende die olympischen Winterspiele in Sotschi. Doch die Abschlusszeremonie fällt auf einen ungünstigen Termin.
Es ist eine Panne, von der die meisten Russen nichts merken: Bei der Eröffnungsfeier in Sotschi versagt die Technik, einer der Ringe öffnet sich nicht. Das Staatsfernsehen montiert kurzerhand ein Probenbild. Während Sportfans weltweit vor den Bildschirmen vergeblich auf den fünften Ring warten, können die russischen Zuschauer ihn sehen. Die kleine Panne schmälert das Gesamturteil allerdings nicht: Die Zuschauer schwärmen später vom Schwanensee-Ballett und dem Gesang Anna Netrebkos.
Mit einer ähnlich prunkvollen Zeremonie sollen die Winterspiele an diesem Sonntag enden. Ein Feiertag ist dieser 23. Februar ohnehin schon. Am Tag der Vaterlandsverteidiger gedenken die Russen der Anfänge der Roten Armee. Für Präsident Wladimir Putin gibt es also doppelten Grund zum Feiern. Besonders günstig ist der Zeitplan allerdings nicht. Das Datum der Abschlussfeier ist höchst brisant. Der Termin fällt auch auf den Jahrestag eines dunklen Kapitels in der russischen Geschichte. Am Sonntag vor 70 Jahren ließ Josef Stalin eine halbe Million Tschetschenen und Inguschen nach Zentralasien deportieren, Zehntausende starben.
Was passierte damals im Nordkaukasus? Der Krieg gegen Deutschland ist noch in vollem Gange, da betraut Stalin im Februar 1944 über 100.000 seiner Soldaten und Offiziere mit einer besonderen Aufgabe. Es geht um die Zukunft der Nordkaukasusvölker, um die der Tschetschenen und Inguschen. Aus der Sicht Moskaus leisten sie Widerstand gegen das Regime und kollaborieren mit den Nazis. Einer möglichen Abspaltung des Nordkaukasus von der Sowjetunion kommt Stalin schließlich zuvor, indem er die Auflösung der Tschetscheno-Inguschischen Autonomen Sozialistischen Teilrepublik anordnet.
Die unfreiwillige Umsiedlung
Die "Operation Tschetschewiza" beginnt am 23. Februar um 2 Uhr morgens: Radiosender und Telefone werden abgeschaltet, Stalins Truppen riegeln die betroffenen Ortschaften ab und holen die Bewohner aus ihren Häusern. Jede Person darf 100 Kilo Gepäck mitnehmen und Lebensmittel für drei Tage. Die Soldaten verladen die Unerwünschten in Viehwaggons. Insgesamt 180 Züge mit jeweils 65 Waggons sollen die Tschetschenen und Inguschen fortschaffen, weg aus der Heimat. Stalin will sie nach Kasachstan und Kirgisien umsiedeln.

Die Deportation hat die Identität der Tschetschenen geprägt. Dieses Bild zeigt Schauspieler in Grosny in einem Eisenbahnwagen, der an die Deporation erinnern soll.
(Foto: AP)
Der Transport ist voller Strapazen: Die sanitären Zustände sind schlecht, Eimer dienen als Toilettenersatz, Waschmöglichkeiten gibt es keine. Viele Passagiere infizieren sich mit Typhus. Die Leichen derer, die die Deportation nicht überleben, werden einfach aus dem fahrenden Zug geworfen. Ganz unbemerkt bleibt die Operation nicht. Der abchasische Schriftsteller Dimitri Gulia berichtet später von einem extrem langen Zug, "vollgestopft mit Menschen, die aussahen wie kaukasische Bergbewohner. Sie alle wurden irgendwohin in Richtung Osten gebracht. Sie sahen fürchterlich traurig und jammervoll aus."
Im Juli 1944 meldet der zuständige Volkskommissar an Stalin, dass 496.460 Personen deportiert wurden, rund 411.000 nach Kasachstan und mehr als 85.000 nach Kirgisien. Dort teilt man sie auf neue Siedlungsbezirke auf und lässt sie auf Plantagen und in Bergwerken arbeiten. Doch ein freies Leben führen sie nicht. Einmal monatlich müssen sich die Deportierten registrieren lassen, auch dürfen sie sich nicht weiter als drei Kilometer von ihrer Siedlung entfernen. Wer das Territorium trotzdem verlässt, wird zu 20 Jahren Strafarbeit verurteilt.
So schnell der Transport nach Zentralasien auch gelingt, die Umsiedlung ist schlecht geplant. Im kasachischen Taldy-Kurgan sind beim Eintreffen der Züge erst 23 der geplanten 1400 Wohnhäuser fertiggestellt. Noch Anfang September 1946 haben in Kirgisien nur knapp 5000 von 31.000 der Siedler-Familien eine dauerhafte Unterkunft. Der Transport, die harte Arbeit und die mangelhafte Behausung haben Folgen. Die Angaben über die genaue Anzahl der Toten schwanken erheblich, aber durch Hunger, Kälte und Krankheiten sterben wohl etwa ein Drittel und damit deutlich mehr als 100.000 Personen während des Transports oder in den Jahren danach.
Eine "taktische Meisterleistung"
Dreizehn Jahre lang müssen Tschetschenen und Inguschen im Exil leben. 1957 entscheidet der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow, sie wieder in ihrer alten Heimat einzugliedern. In einer Rede kritisiert er sogar Stalin. Die Massendeportationen ganzer Völkerschaften seien ungeheuerlich. "Kein Marxist-Leninist und überhaupt kein vernünftiger Mensch kann verstehen, wie es möglich ist, ganze Völker, samt Frauen und Kindern, für feindliche Handlungen verantwortlich zu machen, Massenrepressalien gegen sie anzuwenden und wegen der Schädlingsarbeit einzelner und kleinerer Gruppen der Not und dem Elend auszusetzen", sagt Chruschtschow 1956 in seiner Geheimrede auf dem Parteitag der KPdSU. Zwischen 1957 und 1961 kehren 384.000 Tschetschenen und 84.000 Inguschen in den Nordkaukasus zurück.
Doch das Trauma bleibt, es gibt weder eine Wiedergutmachung für die Deportierten noch rechtliche Folgen für die Verantwortlichen. Das Verhältnis zwischen Moskau und den beiden Kaukasusvölkern bleibt schlecht. Das Streben nach Eigenstaatlichkeit lehnt die russische Regierung auch nach der Auflösung der UdSSR ab. Während der Tschetschenien-Kriege in den 90ern kommen aus Politik und Gesellschaft immer wieder Forderungen, die Tschetschenen erneut zu deportieren. Eine Aufarbeitung mit dem Ereignis, das Wissenschaftler als Völkermord einordnen, gibt es bis heute nicht.
Die Sorge vor tschetschenischen Islamisten war auch einer der Gründe, warum Putin 100.000 Sicherheitskräfte nach Sotschi schicken ließ. Dass der tschetschenische Volkstrauertag mit der Abschlussfeier zusammenfällt, bezeichnen Experten ironisch als "taktische Meisterleistung". Ob sich das bei der Planung nicht hätte verhindern lassen? Ein Sprecher des Organisationskomitees wollte dazu gegenüber n-tv.de keine Angaben machen. Es wird also so sein: Während Gastgeber Putin "seine" Spiele mit einem gigantischen Fest beendet, gedenken Tschetschenen und Inguschen der Verschleppung ihrer Völker. Nach Feiern wird ihnen nicht zumute sein. Einige hundert Kilometer weiter westlich wird von diesem kleinen Schönheitsfehler allerdings wohl kaum jemand Notiz nehmen.
Quelle: ntv.de