US-Verband ist in großer Sorge Der verzweifelte Kampf der Simone Biles
28.07.2021, 08:04 Uhr
Simone Biles kämpft gegen Simone Biles.
(Foto: AP)
Nach einem Gerät ist Schluss. US-Turnstar Simone Biles bricht den Team-Wettbewerb in Tokio ab. Die 24-Jährige gesteht mentale Probleme ein. Sie ist bereits der zweite Superstar, der mit der Last der Erwartungen nicht mehr klarkommt. Kann es für Biles dennoch weitergehen?
Simone Biles nimmt sich eine Auszeit. Wenn man das überhaupt so nennen kann. Simone Biles zieht sich für einen Tag zurück. Der Mittwoch dient der Genesung. Er soll es zumindest tun. Aber ob ein Tag reicht, um dem Turn-Superstar all das zurückzugeben, was ihm in diesen ersten olympischen Tagen von Tokio gefehlt hat? Biles möchte das offenbar gerne glauben. Die Aufgabe jedenfalls ist gewaltig. Für die 24-Jährige, die die Grenzen ihres Sports mehrfach in Dimensionen verschoben hat, die eigentlich unvorstellbar sind, geht es nun darum, sich das Selbstvertrauen und den Spaß zurückzuholen. Beides ist abhandengekommen. Und damit ihre krasse Dominanz.
Simone Biles ist ein Superstar. Aber sie ist nicht nur das. Simone Biles ist so etwas wie der Medaillen-Messias der Amerikaner. Das wirkt schon ein wenig eigenartig an. Denn das Land verfügt über so unglaublich viele Sportler, die den Status der Ikone haben, die reichlich Edelmetall für den so wichtigen Medaillenspiegel heranschleppen. Aber Biles ist eben etwas Besonderes. Wegen ihrer Geschichte, die die Amerikaner so sehr lieben. Die Mutter ist abhängig von Drogen und Alkohol, bekommt die Erziehung ihrer Töchter nicht in den Griff. Simone wächst in Pflegeheimen auf - bis ihr Großvater sie im Alter von sechs Jahren adoptiert. Der Rest ist eine beeindruckende Erfolgsgeschichte, geprägt auch von schlimmen Schicksalsschlägen. 2018 macht sie öffentlich, dass sie als Teenager von Teamarzt Larry Nassar sexuell missbraucht wurde. Mehr als 350 andere Athletinnen sagen ebenfalls aus. Nassar wird zu 175 Jahren Haft verurteilt.
Bizarre Szenen in der Halle
Biles hat in ihrem Leben immer kämpfen müssen. Sie hat all diese Kämpfe gewonnen. Doch nun ist sie auf einen Gegner getroffen, an dem sie verzweifelt. Zumindest vorübergehend. Sie ist auf sich selbst getroffen. Auf die Dämonen in ihrem Kopf. Am Dienstag brach sie das Mannschaftsfinale nach dem ersten Gerät ab. Für ihren Sprung hatte die 24-Jährige zuvor die für sie ungewohnt niedrige Wertung von 13,766 Punkten bekommen. Biles verließ die Halle und kam wenig später in Trainingsklamotten zurück. Es folgten bizarre Momente: Sie klatschte, sie schrie, sie warf Küsschen in die Kamera - dabei war sie längst nur noch Zuschauerin. Während die Sozialen Netzwerke regelrecht explodierten, verfolgte der Kunstturn-Superstar das olympische Mannschaftsfinale im weißen Trainingsanzug. Es waren Szenen, die nicht zu dem passen wollten, was in Biles vorging. Was sie erst später in einer Medienrunde offenbarte: Sie war nicht mental nicht mehr fähig, an ein Gerät zu gehen.
Biles hatte dafür selbst erste Indizien geliefert. Nach überraschenden Wacklern in der Qualifikation für den Teamwettbewerb am Montag hatte sie bei Instagram offenbart, dass sie im Moment das Gefühl habe, "dass ich das Gewicht der ganzen Welt auf den Schultern trage." Etwas sarkastisch schob sie nach: "Ich weiß, ich bürste es ab und lasse es so aussehen als würde der Druck keinen Einfluss auf mich haben, aber verdammt, manchmal ist es hart hahaha." Womöglich war diese Offenbarung mehr als ein erklärendes Posting. Womöglich war dieses Posting bereits ein getarnter, aber verzweifelter Hilferuf.
Die 24-Jährige hat in ihrer Karriere alles gewonnen. Vier Mal Gold bei den Olympischen Spielen (alle in Rio 2016), 19 Mal Gold bei Weltmeisterschaften (seit 2013). Biles hat in ihrem Sport Dinge möglich gemacht, die eigentlich unmöglich schienen. Ihr Doppel-Salto-Sprung mit der höchsten Schwierigkeitsstufe heißt "Yurchenko double pike" und gilt als äußerst gefährlich. In Tokio sollte sie nun ihre Karriere nun krönen. Wobei allein schon das Wort "krönen" zeigt, wie übertrieben groß die Erwartungen sind. Denn was soll sie eigentlich noch toppen? Vier Mal Gold bei den Spielen? Klar, sechs Mal Gold wären möglich gewesen und alles andere als eine Utopie.
Auch Japans Darling ist verzweifelt
Der amerikanische Turn-Darling ist in Tokio nicht der erste Superstar, der unter der gewaltigen Last der Erwartungen leidet. Auch Naomi Osaka, die japanische Tennisspielerin, gab nach ihrem frühen Scheitern zu, dass ihr der Druck des Kollektivs zu groß war. Anders als Biles hatte Osaka aber bereits vor Wochen erklärt, dass sie gelegentlich unter Depressionen leide. Die Amerikanerin hatte sich dagegen auf ihre "mentale Gesundheit" zurückgezogen. Die Probleme auf dem jeweiligen Terrain aber sind die gleichen: Die Angst vor dem Versagen, die Furcht vor den unmenschlichen Ansprüchen, sie lähmten den Körper und blockierten die Seele. Aber wie damit umgehen? Osaka ist bereits raus. Biles dagegen hat noch eine lange, anstrengende Strecke in Tokio vor sich.
Die Über-Turnerin erhielt viel Zuspruch und Unterstützung für ihre Offenbarung. "Bin ich gut genug? Ja, ich bin gut genug. Das Mantra, das ich täglich praktiziere. Simone Biles, wir sind stolz auf dich und drücken dir die Daumen", twitterte die ehemalige First Lady Michelle Obama. Rekord-Olympiasieger Michael Phelps, der 2018 seinen eigenen Kampf mit Depressionen und Selbstmordgedanken nach den Sommerspielen 2012 offenbart hatte, sagte, Biles' Kampf zu sehen, habe ihm "das Herz gebrochen". "Das Wichtigste ist, dass wir alle manchmal um Hilfe bitten müssen, wenn wir durch diese Zeiten gehen", sagte Phelps. "Ich kann sagen, dass es für mich persönlich eine große Herausforderung war. Es war schwer für mich, um Hilfe zu bitten."
Weitermachen und durchbeißen, kann das die Lösung sein? Eher nicht. Dämonen im Kopf lassen sich nicht einfach wie beiseiteschieben. Osaka hat das erlebt. Zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit. Und Biles? Ist es wirklich vorstellbar, dass in das Ariake Gymnastics Center zurückkehrt und um Medaillen kämpft? Nach nur einem Tag Pause für den Kopf? Nein, eher nicht. Zumindest ihren nächsten Start am Donnerstag hat sie bereits abgesagt. Der Turnverband teilte am Vormittag mit, dass die 24-Jährige allerdings aus "medizinischen Gründen" nicht am Mehrkampf-Einzelfinale teilnehmen wird. Was folgt? Unklar. Biles und der Verband wollen von Tag zu Tag entscheiden. "Simone wird weiterhin täglich bewertet, um herauszufinden, ob sie in den Einzel-Finals in der kommenden Woche teilnehmen kann", schrieb der Verband.
Die Turnerin hatte derweil am Dienstag einen Satz gesagt, der sehr tief in ihre Seele blicken ließ. Sie hatte gesagt, sie traue sich selbst nicht mehr so, wie sie es mal getan habe, sagte sie. Sie wisse nicht, ob es am Alter liege, aber sie werde nervöser, wenn sie turne: "Ich habe auch das Gefühl, dass ich nicht mehr so viel Freude habe." Etwas Schlimmeres kann ein Sportlerin wohl kaum passieren. Erst recht nicht bei OIympischen Spielen.
Quelle: ntv.de