Nach homophoben Attacken Die verspotteten Geher erleben ihre Olympia-Magie
07.08.2024, 17:20 Uhr
Malerische Strecke, schwieriger Untergrund: Christopher Linke ist Deutschlands bester Geher.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Die Geherinnen und Geher haben es nicht leicht: Beim Training werden sie häufig angefeindet und ausgelacht. Doch alle vier Jahre bekommen sie bei Olympia die ganz große Bühne. In Paris erhalten sie endlich auch die Anerkennung, die sie verdienen.
Es ist fast das Schönste an den Olympischen Spielen: Alle vier Jahre heben sie Sportarten auf eine große Bühne, die man neu für sich entdeckt und dann wieder vergisst - sich aber freut, sie in vier Jahren wiederzutreffen. Man lernt neue Welten, Helden und Dramen kennen. Sei es das Skeet-Schießen, das wie ein Gender-Reveal mit Schrotflinten wirkt, oder das Speed-Klettern, bei dem die iranische Legende Reza Alipour gegen einen 19-Jährigen verliert. Oder eben das Gehen, das irgendwie seltsam wirken kann.
Der Sport hat es nicht leicht, dabei ist er einer der ältesten der Spiele der Neuzeit. Als Disziplin für Männer war er erstmals 1932 in L.A. dabei - die Frauen kamen dagegen erst 1992 in Barcelona dazu. Doch die lange Historie schützt nicht: Es ist einfach, sich über das Gehen lustig zu machen. Es fängt beim (zugegeben) ulkigen, kurios anmutenden Hüftschwung an: Wenn man das nur alle vier Jahre sieht, kann das befremdlich wirken. Es ist das Ergebnis der zwei goldenen Regeln: Das Bein muss beim Bodenkontakt gestreckt und ein Fuß muss immer auf dem Boden sein. Kontrolliert wird das nicht mit Hightech-Kameras, sondern dem menschlichen Auge.
Das unterscheidet es vom Joggen - und macht die ganze Disziplin kompliziert. Denn damit das nicht in einen beinbrechenden Stechschritt abgleitet, kommt der Hüftschwung dazu, der das alles so markant macht. Dazu gibt es ein kompliziertes Sanktionssystem. Bricht eine Athletin, ein Athlet eine der beiden Regeln, setzt es einen Disqualifikationsantrag. Im Laufe eines Rennens summieren sich diese auf: Zunächst gibt es Zeitstrafen, irgendwann folgt der Ausschluss. Soweit die Regeln. Aber: Man stelle sich das mal vor: Jemand, der 35 Kilometer joggt, müsse noch darauf achten, wie er einen Fuß vor den anderen setzt. Das macht die ganze Angelegenheit äußerst kompliziert und erfordert viel Konzentration.
Ausgelacht und angehupt
Hinzu kommen die Athletinnen und Athleten, die diesen Sport liebenswürdig machen. Das Teilnehmerfeld der diesjährigen Spiele erzählt unzählige interessante Geschichten. Da sind die beiden Paris-Goldmedaillengewinner über 20 Kilometer. Die Chinesin Yang Jiayu klebt sich aus kulturellen Gründen, so heißt es, den Bauchnabel ab. Sie sorgt sich, dass der Wind ihr Magenprobleme bereiten würde. Oder der extrovertierte Ecuadorianer Brian Pintado, der das erste Leichtathletik-Gold dieser Spiele geholt hatte. Für den Erfolg hat er vier Monate seine Familie nicht mehr gesehen. Das Foto seiner beiden Kinder hat er bei den Rennen immer dabei. Oder auch die Italienerin Antonella Palmisano, die immer eine von ihrer Mutter gestickte Filzblume im Haar hat, in den Farben des Gastgeberlandes.
Doch auch sportlich ist es beeindruckend: Wer Geher live erlebt, ist überrascht, mit welchem Tempo sie unterwegs sind. Das sind bisweilen 15 Kilometer pro Stunde - das ist Welten schneller als ein Hobby-Athlet. Da ist es mehr als schade, dass diese Sportlerinnen und Sportler für ihre Hingabe selten die Anerkennung erhalten, die sie eigentlich verdienen. Auch der deutsche Top-Athlet Christopher Linke kennt das Problem. Nach seinem enttäuschenden 19. Platz über 20 Kilometer sagte er: "Sonst sind wir immer so offen, aber wenn jemand sagt, dass er Geher ist, dann müssen alle lachen." Der 35-jährige Sportsoldat war für die Vorbereitung der Spiele praktisch kaum daheim bei seiner Lebensgefährtin, hat die meisten Tage im Höhentraining verbracht - 200 von 259 Tagen bis Olympia seien es gewesen.
Vor Beginn der Spiele erzählte er dem Berliner "Tagesspiegel", dass er bei seinen Trainingsrunden um den Templiner See daheim in Brandenburg ständig angefeindet werde. Es gebe keinen Tag, an dem er nicht "angehupt oder ausgelacht" wird, berichtete der 35-Jährige. Die Menge an Hass, meist homophob, die auf die Top-Athleten hereinprasselt, ist kaum zu glauben. Ein Kollege von ihm, Jonathan Hilbert, postete ein Video, bei dem er sich mit einem normalen Läufer verglich. Der Clip wurde millionenfach angeschaut, doch irgendwann mussten sie die Kommentare deaktivieren. Hilbert wurde als "Schwuchtel" beschimpft, berichtete Linke der Zeitung. Es sei das Traurige: "In Deutschland muss ich mich rechtfertigen, dass ich Geher bin."
Das Problem mit der Strecke
Dabei ist er einer der besten seiner Zunft. Bei seinen vierten Olympischen Spielen und nach zwei fünften Plätzen sollte es in Paris endlich die Medaille sein. Doch nach der Enttäuschung im Einzel gab es auch im neuen Mixed-Wettbewerb über die Marathonlänge keine Medaille. Mit Saskia Feige, die einzige deutsche Frau auf Weltklasse-Niveau, schaffte er es auf Platz zehn. Ihr Ziel war, besser als Platz 14 abzuschneiden, dort landeten sie zuvor bei der Team-Weltmeisterschaft im türkischen Antalya.
Die Rennen in Paris waren nicht einfach. Beim Gehen lief es ein wenig so wie beim Schwimmen in der Seine ab. Die ein Kilometer lange Schleife rund um den Trocadero, am Fuße des Eiffelturms, ist für die Zuschauenden malerisch, aber nicht für die Protagonisten. Die Straße? "Die geht gar nicht. Ich konnte nicht mal zum Eiffelturm gucken, weil ich die ganze Zeit auf den Boden schauen musste, dass ich nicht in irgendein Loch oder eine Bodenwelle reintrete", sagte Linke nach dem ersten Rennen. Und legte nach: "Wer sich überlegt hat, dass man im Gehen eine Wende im Kopfsteinpflaster macht, der ist in seinem Leben noch nie gegangen."
Ansonsten können aber auch die Geherinnen und Geher nicht über Paris klagen. Die Stadt versank in den vergangenen Tagen in sportlicher Vorfreude. Vor allem die Franzosen feuerten ihre Stars an: Beim Judo-Team-Finale mit Superstar Teddy Riner gegen Japan konnte es schon mal passieren, dass das Leben an einer ganzen Kreuzung stehenblieb: Alle Fernseher zeigten das gleiche Bild, Leute blieben vor Cafés stehen, Autos hupten für ihre Stars.
Die Euphorie schwappte auf die anderen Sportarten über: Die Tickets für die Langstreckenwettbewerbe waren teils sehr billig oder sogar kostenlos - davon profitierten auch die Geherinnen und Geher. Es war die Anerkennung, die sie lange vermisst haben. Zum Auftakt in der vergangenen Woche kamen schon am frühen Morgen bis zu 100.000 Menschen an die Strecke, um die Herren auf ihren 20 Kilometern anzufeuern. Die Stimmung an dem Rundkurs sei "gigantisch" gewesen, sagte Linke nach seinem ersten Rennen. Niemand hat gehupt oder die Athletinnen und Athleten ausgelacht. Ganz im Gegenteil.
Quelle: ntv.de