Alles ist besser als damals Nach dem "Albtraum" vernichtet sich Juri Knorr diesmal nicht selbst

Juri Knorr, Silbermedaillengewinner.

Juri Knorr, Silbermedaillengewinner.

(Foto: picture alliance / Eibner-Pressefoto)

Die deutsche Handball-Nationalmannschaft erlebt ein Desaster gegen Dänemark - und feiert doch einen sensationellen Erfolg. Spielmacher Juri Knorr erlebt einen "Albtraum", aber alles ist besser als beim letzten Mal, als man gegen den neuen Olympiasieger verlor.

Beim letzten Mal war es traumatisierend: Schon im Januar war die deutsche Handball-Nationalmannschaft in einem großen Spiel auf Dänemark getroffen. Im Halbfinale der Heim-Europameisterschaft wollte das DHB-Team mit 20.000 Fans im Rücken gegen die beste Mannschaft der Welt etwas Großes schaffen. Es ging furchtbar schief: Nach einer starken ersten Halbzeit brach der Gastgeber ein und verpasste das große Ziel deutlich, auch wenn das Ergebnis (26:29) das nicht in voller Härte widerspiegelte.

Unvergessen ist, wie sich Deutschlands Spielmacher Juri Knorr anschließend selbst vernichtete: "Das Gefühl, in solch einem großen Spiel nicht alles rausgehauen zu haben, enttäuscht mich so. Es tut einfach weh, nicht alles gegeben zu haben", beschimpfte er sich nach dem Spiel. Und auch am Tag danach wollte er seine Worte nicht relativieren: "Es ist enttäuschend, wenn man am nächsten Morgen aufwacht und sich denkt, es war mehr drin. Ich hatte mehr von mir erwartet, dass ich mehr Verantwortung übernehme, mein Herz auf der Platte lasse und alles reinhaue." Deutschlands Topspieler, der bei der Europameisterschaft vor einem halben Jahr noch das Angriffsspiel seiner Mannschaft beinahe alleine schultern musste, hatte nicht groß aufgespielt, aber sich gewiss auch nicht viel vorzuwerfen. Jedenfalls nichts, was diese Selbstgeißelung rechtfertigte. Im anschließenden Spiel um Platz drei waren Knorr und Co. gegen Schweden chancenlos.

Diesmal: der "Albtraum"

Nun, nur wenige Monate später, war alles noch viel, viel schlimmer. 26:39 ging die junge deutsche Mannschaft gegen die Dänen unter, diese Mannschaft der unersättlichen Topstars. Die sich dreimal in Serie zum Weltmeister und nun auch zum Olympiasieger machten. Es war ein komplettes Desaster, schon nach 20 Minuten lagen Knorr und Co. mit zehn Toren zurück. Und es wurde nie besser. Das Endspiel war das einseitigste Olympia-Finale aller Zeiten, die deutsche Mannschaft war nicht mal ein Opfer der Dänen. Sie war einfach nicht existent im Fußballstadion von Lille. Es war ein kompletter Systemabsturz.

"Wir wussten", sagte Kapitän Johannes Golla, "dass wir unser bestes Spiel brauchen, aber das war heute unser schlechtestes Spiel im Turnier." Und Juri Knorr, mit sechs Treffern bester Schütze seines Teams, wähnte sich über 60 Minuten in einem "Albtraum, ich weiß nicht, wie das passieren konnte". Der Traum vom Olympiasieg war geplatzt, gnadenlos.

Aber etwas ist anders, etwas hat sich gedreht seit dem deutschen Winter, in dem der deutschen Mannschaft noch demonstriert wurde, dass der Weg zurück in die Weltspitze noch weit ist. Gegen Frankreich hatten sie damals verloren, gegen Schweden, gegen Kroatien und eben gegen Dänemark. Österreich hatte man ein schmeichelhaftes Remis abgetrotzt, Island knapp geschlagen. Klar, sie hatten die Franzosen lange genervt, die Dänen in der ersten Halbzeit mal geärgert, eine echte Chance hatten sie aber nie.

Dass am Ende das Halbfinale heraussprang, war auch einer glücklichen Gruppenkonstellation zu verdanken. Das deutsche Spiel krankte daran, dass offensiv nahezu die komplette Last auf den Schultern Knorrs lastete. Der Hochbegabte, der deutsche Toptorschütze, brach unter der Last zusammen und mit ihm allzu oft das komplette System. Immer wieder beschworen sie, kleine Schritte zurück zur Weltklasse zu machen. Doch wirklich voran schien es nie zu gehen. "Wir haben nicht die Erfahrung von Dänemark, Frankreich und Schweden, aber sehr viel Talent", sagte Bundestrainer Alfred Gislason vor einem halben Jahr. "Durch neue Spieler im Kader haben wir neue Optionen bekommen, die in der Zukunft sehr wertvoll sein können. Das war ein Schritt nach vorn", lobte Kapitän Johannes Golla in seinem EM-Fazit.

"Haben eine gute Zukunft vor uns"

Nun aber ergaben die kleinen Schritte tatsächlich einen großen: "Immer nur fast da zu sein, reicht nicht", sagte Rune Dahmke, Europameister von 2016, noch nach dem deutschen Viertelfinal-Aus gegen Frankreich bei der WM 2023 in Polen. Nun waren sie da, in Serie. Wenn es eng wurde, haben sie performt. Eine bärenstarke Gruppe, in der die starken Kroaten auf der Strecke blieben, schloss das DHB-Team als Sieger ab. Der Weg ins Endspiel war der schwerstmögliche, eine starke deutsche Mannschaft ging ihn. Zwei knappe Siege gegen Weltklasseteams innerhalb von 48 Stunden sind kein Glück, sondern ein struktureller Qualitätsnachweis. Das hat auch Knorr registriert, der es immer besser versteht, Team und Spiel das zu geben, was gebraucht wird.

Torwart Andreas Wolff hexte sich in Spaniens Albträume, Überflieger Renars Uscins und Knorr warfen sich ins All-Star-Team des olympischen Turniers und der junge David Späth lief gegen Frankreich heiß, als Wolff keine Hand an den Ball bekam.

Mit Uscins hat der deutsche Handball endlich wieder einen Rückraumschützen, der unter großem Druck wichtige Tore erzielen kann. Und viele Tore. Beim dramatischen Viertelfinalerfolg gegen Frankreich traf der Linkshänder 14 Mal, darunter zweimal in den letzten 13 Sekunden der regulären Spielzeit. Im Halbfinalkrimi gegen Spanien (25:24) lief der 22-Jährige in der zweiten Hälfte mit sechs Toren heiß. Es wird anstrengender, gegen Deutschland zu spielen. Bei diesem olympischen Turnier, dieser zweiwöchigen Knochenmühle, schlug das DHB-Team Schweden (zum ersten Mal in einem Pflichtspiel seit 2016), die lange unschlagbar wirkenden Franzosen und die Spanier gleich zweimal.

Nach der letzten Pflichtspiel-Niederlage gegen Dänemark hatte Juri Knorr sich persönlich noch selbst beerdigt. Nun richtet der Spielmacher, selbst erst 24-Jahre alt, den Blick nach vorne: "Wir haben auf jeden Fall eine gute Zukunft vor uns, aber wir müssen noch ganz viel lernen." Erfolge sind ein guter Treibstoff für Fortschritt. Und so geschlagen sie auf der Platte waren, so stolz nahmen sie ihre Medaillen entgegen. Im Wissen, etwas Großes erreicht zu haben. Endlich steht die deutsche Mannschaft nach einem großen Turnier nicht mehr mit leeren Händen da. Sondern mit einer olympischen Silbermedaille. Nach dem Desaster gibt es keinen Grund zur Klage. Nur zum Lernen.

Quelle: ntv.de

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