Erst die Wut, dann die Tränen Zverev toppt und widerlegt Boris Becker
30.07.2021, 15:14 Uhr
Dass Alexander Zverev ins olympische Halbfinale von Tokio einzieht, ist keine Überraschung. Aber ins Finale des Tennis-Turniers? Dem steht eigentlich der serbische Topfavorit Novak Djokovic im Weg. Zverev packt es nach einem katastrophalen Start. Nun ist er kurz davor, sein Trauma zu bewältigen.
Die Rolle des weinenden Olympia-Helden gefällt Alexander Zverev nicht. Ganz und gar nicht. Die Tränen, die er nach dem phänomenalen 1:6, 6:3, 6:1-Halbfinalsieg gegen Novak Djokovic verdrückt hatte, die habe hoffentlich niemand gesehen, sagte er. Nun, es kann an diesem historischen Freitag nicht alles klappen für den deutschen Tennis-Star. Seine feuchten Augen wurden von den technisch hochwertigen Kameras ganz prächtig eingefangen. Hätte aber natürlich weitaus schlimmer kommen können für den 23-Jährigen. Zum Beispiel, wenn der zweite Satz genauso gelaufen wäre, wie der erste. Der war nämlich ziemlicher Mist.
Zwar war Zverev nicht so heillos überfordert, wie das Ergebnis vermuten lässt. Eine Chance gegen den fast unschlagbaren Serben hatte er allerdings auch nicht. Das Halbfinale droht zu einem typischen Zverev-Spiel zu werden. Immer irgendwie nah dran am Triumph, aber dann plötzlich doch wieder ganz weit weg. Satz eins lieferte neue Beweise für die ewige Anklage von Tennis-Legende Boris Becker. Der setzt sich schon chronisch kritisch mit seinem Nachfolger auseinander. Erst vor wenigen Wochen hatte Becker moniert, dass Zverev immer wieder an sich selbst scheitere. Becker ärgert das. Zverev sei zu passiv in den entscheidenden Momenten, er warte nur auf Fehler, waren die beiden Hauptanklagepunkte.
Becker nervt, dass Zverev noch immer der große Titel verweigert bleibt. Tatsächlich hat er noch keinen Grand Slam gewonnen, lediglich einmal stand er im Finale. Und auch kein olympisches Gold. Das indes kann man dem gebürtigen Hamburger nicht zum Vorwurf machen. Er ist schließlich das erste Mal bei den Spielen dabei. Und hat sich nun die Gold-Chance erspielt. Im Finale gegen den russischen Überraschungsmann Karen Chatschanow ist Zverev Favorit. Er beschreitet in Tokio nun den Pfad, den andere deutsche Tennis-Größen vor ihm ausgetreten hatten. Steffi Graf gewann 1988 Gold und vier Jahre später Silber. Vor fünf Jahren feierte auch Angelique Kerber einen silbernen Triumph. Als bislang letzter Deutscher im Herren-Einzel hatte Tommy Haas 2000 in Sydney das Endspiel erreicht, aber gegen Jewgeni Kafelnikow verloren.
Qualität und Mentalität
Wobei das Wort "erspielen" der Leistung des Weltranglisten-Fünften nicht gerecht wird. Denn was Zverev nach dem Ergebnis-Debakel in Durchgang eins plötzlich anbot, war eine Leistung voller Qualität und Mentalität. Das Spiel gegen den Über-Spieler der vergangenen Jahre noch so zu biegen, das schien eigentlich unmöglich. Und Zverev zwischendurch verzweifelt.
Doch im zweiten Durchgang war er sofort da. Sein Spiel war souveräner, selbstsicherer. Aber die Chancen, die sich boten, die nutzte er nicht. Djokovic, dieses Ungetüm an Überzeugung, wehrte die Attacken seines Kontrahenten ab. Mit Mühe, aber erfolgreich. Der 24-Jährige, der seine Wut auf dem Court nicht immer im Griff hat, hämmerte sein Racket auf den Court und als Djokovic das Break zum 3:2 gelang, da verließ ein Ball den Platz in Richtung der obersten Tribünen-Plätze. Der Traum von Gold, er schien spätestens jetzt geplatzt. Dabei hatten die Duelle in Tokio doch die Heilsalbe für die Wunden der vergangenen Monate sein sollen. Bei den French Open war Zverev Mitte Juni nach einem harten Kampf gegen den griechischen Topspieler Stefanos Tsitsipas im Halbfinale gescheitert. Eine Enttäuschung, aber ganz weit weg von einem Drama oder einem Debakel.
Das erlebte Zverev dann Anfang dieses Monats in Wimbledon. Bereits im Achtelfinale war gegen den Kanadier Felix Auger-Aliassime Schluss. Wieder war's ein harter Kampf. Wieder ein verlorener, einer, der Zverev arg ratlos zurückgelassen hatte. Aber es war auch eine Niederlage, die ihm weniger weh tat als viele andere zuletzt. Denn die Sache war eindeutig. "Ich habe nicht annähernd auf dem Level gespielt, wie ich es bei einem Grand Slam tun müsste." Deutschlands bester Tennisspieler spürte, dass sein Körper eine Pause brauchte. Er nahm sie sich. Um endlich die großen Ziele zu erreichen. Zverev hängte seine Akkus ans Schnellladegerät. Denn viel Zeit war nicht.
Höchst erfolgreiche Blitz-Therapie
Es war eine physische und psychische Blitz-Therapie die erstaunlich gut anschlug. Zwar war er im Turnier bislang nur einmal wirklich gefordert gewesen, im Achtelfinale gegen den starken Georgier Nikolos Bassilaschwili, aber als es nun zum maßgebenden Belastungstest kam, da offenbarte Zverev eine Power wie einst der legendäre Duracell-Hase. Ausgelöst durch seinen kleinen Wutanfall, Schlägerwurf inklusive. Plötzlich spielte der 24-Jährige mit maximaler Überzeugung, im Wissen, dass er nichts mehr verlieren, nur noch gewinnen kann. Ihm gelang zwischenzeitlich eine wahnsinnige Serie von 8:0 gewonnenen Aufschlagspielen. Diese mündete nicht nur im Gewinn des zweiten Satzes, sondern auch in einer 4:0-Führung in Satz drei. Zverevs Aufschlag kam, er gewann die langen Rallys. Er spielte aggressiv und offensiv. Er wartete nicht auf Fehler, sonst setzte auf Winner. Er ließ Djokovic keine Chance und entwaffnete nebenbei auch noch Boris Becker. Djokovic, der aus jeder Schwäche wieder auferstehen kann, wirkte völlig hilflos.
Mit einer platzierten Rückhand gegen den Aufschlag des "Djokers" beendete Zverev die Partie. Als Nebeneffekt verdarb er dem serbischen Weltranglisten-Ersten die Chance auf einen historischen Triumph. Djokovic wollte in diesem Jahr die seltene Chance auf den Golden Slam ergreifen, dazu fehlten ihm noch Olympia-Gold und der US-Open-Titel. Die Chance ist nun krachend entglitten. Steffi Graf bleibt damit der einzige Tennis-Star, der den Golden Slam jemals gewonnen hat.
"Mit Sicherheit einer der emotionalsten Momente" seiner Karriere sei das gewesen, sagte der stolze, aber auch völlig ausgepowerte Zverev nach seinem phänomenalen Sieg, ganz sicher auch einem der größten und wichtigsten bisher. Sein älterer Bruder Mischa war emotional ebenfalls völlig ermattet: "Ich kann nix sagen. Ich hab tausendmal geheult, dann hab ich gelacht, dann war ich sauer. So emotional, das war anstrengend", sagte er bei Eurosport. "Hör auf zu heulen. Einer in der Familie reicht", schickte Alexander einen schönen Gruß zurück. Mit Tränen, da fremdelt er. Aber womöglich schon bald nicht mehr mit einem großen Triumph.
Übrigens: Egal wie seine Partie am Sonntag ausgeht, schon jetzt hat Zverev ein wichtiges Zeichen gesetzt und Boris Becker etwas voraus. Die Legende holte zwar Doppel-Gold in Barcelona, blieb als Solist aber erfolglos.
Quelle: ntv.de