Indien schreckt Pharmabranche auf Abbruch an der Patentklippe
14.03.2012, 13:32 Uhr
Bei der Abfüllung in der Bayer Produktionsanlage ist Nexavar noch gut geschützt - in Indien nicht mehr.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Indien alarmiert die Pharmabranche: In einem Grundsatzurteil entzieht das Patentamt dem Pharmakonzern Bayer die Lizenz für das Krebsmittel Nexavar. Auch wenn Bayer das vermutlich verkraften kann, für die Branche kommt der Sturz über Patentklippe wohl schneller als erwartet.
Indische Behörden versetzen der internationalen Pharmabranche einen schweren Dämpfer. In einem möglicherweise wegweisenden Urteil hat Indien den Pharmahersteller Bayer gezwungen, das Patent für das Krebsmedikament Nexavar an den heimischen Generikahersteller Natco Pharma weiterzugeben. Die sogenannte Zwangslizenz für das Nachahmermedikament soll die Arznei für die arme Bevölkerung zugänglicher machen. Der Beschluss kommt für die um ihre Patente kämpfende Branche zur Unzeit.
Bayer kündigte umgehend an, juristische Schritte gegen die Entscheidung zu prüfen. Experten befürchten allerdings, dass der Beschluss des indischen Patentamts zum Präzedenzfall werden könnte. Es ist erst das zweite Mal, dass ein Land den bestehenden Patentschutz für ein Krebspräparat aushebelt. Thailand war 2006 und 2008 ähnlich vorgegangen, die Regierung wollte einige Aids-Präparate und Herzmedikamente erschwinglicher machen.
Mehr Zwangslizenzen in Sicht?
Mit dem neuen Urteil könnten Zwangslizenzen unter Verletzung bestehender Patentrechte nun öfter ausgeteilt werden. Nach internationalen Handelsregeln können Länder solche Lizenzen vergeben, wenn lebensrettende Medikamente für die Bevölkerung unbezahlbar sind. Heimische Hersteller werden dann autorisiert, die Präparate günstiger herzustellen oder die Länder fordern die Importe von deutlich billigeren Generika ein.
Bislang wurde von Zwangslizenzen meistens in Ausnahmesituationen Gebrauch gemacht – etwa in den USA, als nach dem 11. September 2001 Milzbrandanschläge befürchtet wurden und Bayer sein Antibiotikum Ciprobay günstiger abgeben musste. Doch mögliche Patentverluste teurer Medikamente in Entwicklungsländern werden schon länger in der Branche diskutiert, vor allem bei Aids-Präparaten für Afrika. Dass aber ein schnell wachsendes Schwellenland wie Indien, das zudem über die drittgrößte Streitmacht der Welt verfügt, nicht selbst für seine Bevölkerung sorgt, löst jedoch Unmut aus.
Erosion schreitet voran
Schon seit langem sind auslaufende Patente für die Pharmaindustrie ein Problem, allerdings eines, das sich zunehmend verschärft und in diesem Jahr einen Höhepunkt erreichen wird. Denn innerhalb kürzester Zeit laufen die Patente mehrerer Blockbuster-Medikamente verschiedener Konzerne aus. So verliert alleine der US-Konzern Pfizer mit dem Cholesterinsenker Lipitor und dem Potenzmittel Viagra zwei Patente auf dem Heimatmarkt.
Was diese von der Branche gefürchtete "Patentklippe" in Zahlen bedeutet, zeigt das Beispiel des Cholesterinsenkers Zocor von Merck. Nachdem das Patent 2006 auslief, brach der Umsatz innerhalb eines Jahres von zuvor 4,4 Milliarden Dollar auf 876 Millionen Dollar ein, 2010 lagen die Erlöse gerade mal noch bei knapp 470 Millionen Dollar.
20 Jahre verfliegen im Nu
Dass Umsatzeinbrüche von bis zu 80 Prozent keine Ausnahme sind, wenn die billigeren Generikapräparate die Märkte überschwemmen, ist die eine Seite. Die andere ist, dass den meisten Konzernen umsatzstarke neue Medikamente fehlen, die das ausgleichen können. Und nicht zuletzt bleibt den forschenden Pharmaunternehmen nur wenig Zeit für die Amortisation. Die Patente gelten für 20 Jahre, dabei nehmen in der Regel die langwierige Entwicklung der Arzneimittel und der behördliche Zulassungsmarathon schon die ersten 10 Jahre nach der Patentierung eines Wirkstoffes in Anspruch.
In Europa können die Unternehmen deswegen den Patentschutz um bis zu fünf Jahre verlängern. Oft werden zudem mit Hilfe eines Patent-Life-Cycle Managements die einzelnen Entwicklungsschritte eines Präparates patentiert, um den Schutz zu strecken. Denn gerade am Ende einer Patentlaufzeit ist bei den milliardenschweren Blockbuster-Medikamenten jeder einzelne Tag Geld wert.
Wo sind die Blockbuster?
Angesichts der drohenden Patentverluste forschten die Unternehmen zuletzt fieberhaft auf der Suche nach den nächsten Blockbustern. 2011 sei außerordentlich produktiv gewesen, mit vielen neuen Behandlungen mit Aussicht auf Blockbuster-Status, schrieb die Ratingagentur Fitch in einer Branchenstudie. Doch wenn künftig selbst der bisherige Patentschutz durch Zwangslizenzen ausgehebelt werden kann, werden die Konzerne wahrscheinlich nicht mehr so viel Energie und Geld in die Entwicklung neuer Medikamente stecken, sondern auf andere Geschäftsfelder ausweichen.
Pfizer hatte schon zuvor angekündigt, das Forschungs- und Entwicklungsbudget zu kürzen. Bayer hat zwar eine fortgeschrittene Medikamentenpipeline mit vier potenziellen Blockbustern, die Spitzenumsätze von mehr als einer Milliarde Euro versprechen. Dennoch setzt der Konzern zunehmend auch auf das auf Saatgut und Pflanzeneigenschaften spezialisierte BioScience-Geschäft. Hier strebt das Unternehmen bis 2014 ein durchschnittliches Umsatzwachstum von 20 Prozent pro Jahr an. Die Erlöse im Gesundheitsgeschäft sollen 2014 die Marke von rund 20 Milliarden Euro erreichen, vom Pharmageschäft sollen dabei 11,5 Milliarden Euro kommen.
In seiner Traditionssparte macht Bayer bereits vor, wie man auch nach dem Ende des Patentschutzes gutes Geld verdienen kann. Und zwar mit bekannten Marken und hoher Patiententreue. Die Konzernbestseller wie die Antibaby-Pille Yasmin oder gar das Zugpferd Aspirin haben schon längst ihre Nachahmer gefunden und sind dennoch aus den heimischen Arzneimittel-Schränken nicht wegzudenken.
Quelle: ntv.de, sla/rts/DJ