Mangel an Chips, Gummi, Holz "Außer in Kriegszeiten nie in so einer Situation"
13.06.2021, 17:01 Uhr
Die Versorgung mit wichtigen Waren aus Asien stockt. Müssen wir die Produktion zurück nach Deutschland holen? Eine Ifo-Studie warnt vor negativen Folgen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Rohstoffe und Zwischengüter, die vor der Pandemie noch selbstverständlich und in großen Mengen zu haben waren, sind plötzlich Mangelware. Die Preise explodieren. Ifo-Expertin Lisandra Flach erklärt im Interview mit Capital.de, was es mit den Flaschenhälsen im Welthandel auf sich hat - und wie sie vermiedern werden könnten.
Industrie und Bau klagen über Engpässe. Es scheint gerade an allem zu fehlen: wichtige Rohstoffe, Vorprodukte, Chemikalien. Wie erklären Sie diesen Flaschenhals der Globalisierung?
Lisandra Flach: Die Gründe für den Engpass sind vielfältig, sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite. Wegen der Corona-Pandemie wurde überall auf der Welt die Produktion heruntergefahren, dann gab es Störungen in der Containerschifffahrt - nicht nur die Havarie im Suez-Kanal, sondern auch Staus in Häfen und Engpässe bei den Containern. Nun ist die Nachfrage nach Konsumgütern weltweit stark gestiegen, der Handel ist auf einem sehr starken Expansionskurs und inzwischen auf einem höheren Niveau als vor der Pandemie. Wir haben also die Produktion zurückgefahren und die Nachfrage ist wieder gestiegen, aber nicht synchron in allen Sektoren und Weltregionen.
Bei Vorprodukten aus dem asiatischen Raum hätte die Produktion aber schon früher wieder steigen müssen, weil die Pandemie dort früher abgeklungen ist, oder? Das würde ja dann eher gegen Engpässe sprechen.
Nein, nicht unbedingt. Angebotsseitig haben wir immer noch eine reduzierte Produktionskapazität. Eine Analyse des Ifo-Instituts zeigt zudem, dass die Preise für Containerschiffe bei geringerer Kapazität enorm gestiegen sind. Einige Routen werden infolge der Corona-Krise nicht mehr so befahren wie früher, da sich Anbieter auf die Hauptrouten konzentrieren. Einige Schiffe sind sogar leer aus den USA wieder nach China gefahren, um Waren dort schneller zu beladen und im Westen wieder exportieren zu können. Der Markt für Containerschiffe war also nicht beweglich genug, um sich an die Aufwärtsbewegung im Welthandel anzupassen.
Gut, es wurden also weniger Routen bedient. Aber erklärt das allein den drastischen Preisansteig?
Es sind unterschiedliche Faktoren am Werk. Erstens gibt es eine gewisse Marktkonzentration im Bereich der Containerschifffahrt. Drei Unternehmen oder Allianzen kontrollieren quasi 83 Prozent des gesamten Marktes, was eine enorme Konzentration darstellt.
Die diktieren dann die Preise?
Genau. Sie haben weniger Anreize, mehr Containerschiffe anzubieten. Diese Marktkonzentration ist nicht Corona-bedingt, hat aber natürlich einen Einfluss, wenn wir hier eine stärkere Nachfrage verzeichnen. Zweitens sind die Containerschiffe immer größer geworden, was ja auch in der Suez-Havarie eine große Diskussion war. Die enorm erhöhte Kapazität hat natürlich positive Skaleneffekte auf die Erträge. Auf der anderen Seite verliert man hierdurch jedoch an Flexibilität. Das heißt, es werden nicht alle Häfen bedient, weil die Riesenfrachter nur an wenigen Häfen ihre Container laden oder entladen können. Das sind strukturelle Faktoren unabhängig von der Pandemie, die aber auch als Erklärungsfaktoren dienen, warum wir nun diesen Flaschenhalseffekt im Transport haben.
Wie gravierend sind die Engpässe in den Lieferketten in den unterschiedlichen Sektoren aus Ihrer Sicht? Ihr Institut hat kürzlich gewarnt, dass der Materialmangel am Bau sich noch einmal verschärfen dürfte.
Nach einer Umfrage unseres Instituts beklagen fast die Hälfte der Unternehmen Schwierigkeiten mit der Lieferung von Zwischenprodukten. Die Sektoren sind jedoch sehr unterschiedlich von diesen Materialknappheiten betroffen, am stärksten wohl die Automobilindustrie wegen des Mangels an Halbleitern und Kunststoffprodukten, aber auch elektrische Ausrüstung wegen des Chipmangels und Sektoren wie Möbel oder Holz sowie Korbwaren wegen der Holzknappheit. Auch bei Gummi und Kunststoffwaren wurden Engpässe gemeldet.
Es wird oft auf den üblichen Verdächtigen China gedeutet, der Märkte wie den für Chips leergekauft haben soll. Ist das der Fall?
Leer kaufen wäre übertrieben. Aber natürlich ist dort die Produktion sehr schnell stark gestiegen. Chinas Exporte waren im ersten Quartal 2020 um 7,2 Prozent gesunken, aber bereits im dritten Quartal sind sie wieder um 9,6 Prozent gestiegen, im vierten Quartal sogar um 11,5 Prozent, während andere Weltregionen noch mit den Folgen der Corona-Krise zu kämpfen hatten und zum Beispiel in der EU im dritten Quartal die Exporte noch um fünf Prozent fielen. Das heißt, die Nachfrage nach diesen Zwischengütern nahm dort vor Europa deutlich zu. In Entwicklungsländern ist die Situation noch dramatischer. In Afrika oder Lateinamerika waren die Exporte im vierten Quartal immer noch deutlich geringer als vor Corona.
Und das beeinflusst auch die Verfügbarkeit von Rohstoffen?
Es muss uns auch klar sein, dass wir außer in Kriegszeiten noch nie in der Situation waren, dass die Produktion weltweit fast komplett heruntergefahren wurde. Dass viele Lieferketten unterbrochen wurden oder noch beeinträchtigt sind, ist die logische Folge. Es wurden sogar Grenzen geschlossen, selbst innerhalb der EU. Es wird noch etwas dauern, bis die Weltwirtschaft wieder komplett rund läuft. Deswegen beobachten wir jetzt diese Engpässe. Es wurde also erst die Produktion sehr stark heruntergefahren, während wir jetzt wieder einen Boom beobachten.
Wenn wir noch einmal den Chip-Mangel betrachten, dann waren andere also einfach schneller.
Genau. Auf dem Chip-Markt ist die Nachfrage abrupt gestiegen, und es haben auch außergewöhnliche Ereignisse das Angebot verringert. In Japan ist eine Fabrik abgebrannt, in Texas legte ein Extremwetterereignis die Produktion in diesem Frühjahr eine Weile lahm. Deswegen meine ich, die Lieferkettenprobleme entstehen sowohl nachfrageseitig als auch angebotsseitig.
Wenn die Frachtraten weiter so hoch bleiben - und große Player wie Maersk erwarten das -, was bedeutet das für die Preisvorteile der Globalisierung?
Wir waren in unserer Studie auch alarmiert, dass der Containerschiffsverkehr immer mehr zu einer Achillesferse des internationalen Handels wird. Aus Kostengründen oder wegen der Skaleneffekte ist es sinnvoll, große Schiffe einzusetzen. Aber die Schiffsfrequenz auf vielen Routen nimmt seit Jahren ab, was die Flexibilität begrenzt. Für die EU ist das extrem bedeutend, da beispielsweise knapp 80 Prozent der EU-Exporte in Drittstaaten verschifft werden. Auch der deutsche Handel ist sehr stark auf die Containerschifffahrt angewiesen.
Werden wir eine Renationalisierung oder das Re-Shoring von Produkten sehen?
Ich glaube, dass uns die Grenzschließungen zur Eindämmung der Pandemie und die daraus folgenden Engpässe schon die Risiken der Just-in-time-Produktion deutlich aufzeigen. Aber die Frage ist, ob es gute Alternativen zu einer offenen Volkswirtschaft gibt. Für die Wirtschaftskraft Deutschlands hätte die Rückverlagerung von Produktion enorme negative Folgen, wie wir in einer unserer Studien gezeigt haben. Es gibt aber auch andere Wege, um die Robustheit der Lieferketten zu erhöhen. Zum Beispiel sollten Unternehmen das Geschäftsmodell Just-in-Time überdenken und neu bewerten, ob eine gewisse Lagerhaltung von kritischen Vorprodukten wie etwa Mikrochips vorzuziehen ist. Gerade bei einem hohen Automatisierungsgrad kann der Nutzen den möglichen Schaden durch Lieferausfälle überkompensieren. Auch eine höhere Diversifizierung der Lieferkette in Bezug auf Zulieferer ist ein zentrales Element, um ihre Robustheit zu steigern.
Nun ist Resilienz von Lieferketten das neue Zauberwort. Und Toyota als der Erfinder des Just-in-Time-Modells kommt offenbar besser durch die Engpässe, weil die Japaner viele Lieferanten in der Nähe haben. Müsste die deutsche Industrie Lehren daraus ziehen?
Dann sprechen wir über das Near-Shoring: Wenn Deutschland etwa Güter nicht mehr in China, sondern in Nachbarländern, etwa in Polen, herstellt. Das ist kein Allheilmittel, wenn man zum Beispiel bedenkt, dass vergangenen März eine Zulieferung aus Italien schwieriger war als aus Vietnam. Aber wir beobachten tatsächlich in unseren Daten einen Trend zu regionaleren Lieferketten. Das heißt, die EU ist als Region über die Zeit wichtiger geworden.
Sie haben errechnet, dass 17 Prozent der deutschen Wertschöpfung über globale Wertschöpfungsketten generiert werden. Was sagt das über unsere Abhängigkeit aus?

Lisandra Flach ist Leiterin des Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft und VWL-Professorin an der LMU München.
Wir sprechen häufig über Dependenzen vom asiatischen Raum. Aber was wir in den Daten beobachten, ist eine Interdependenz. Deutschland bezieht also Zwischenprodukte aus China, während China Zwischenprodukte aus der EU oder Deutschland verwendet. Die genannte Zahl ist sehr hoch, was impliziert, dass Deutschland sehr stark auf internationale Wertschöpfungsketten angewiesen ist - auch stärker als andere Länder, insbesondere die USA oder China. Im weltweiten Durchschnitt liegt diese Zahl bei etwa zwölf Prozent. Die Daten zeigen aber auch, dass der Großteil der Wertschöpfung innerhalb der EU generiert wird. Deswegen ist die Stärkung des Binnenmarkts so wichtig. Deutschlands Wertschöpfung ist vor allem mit der EU verflochten.
Die Abhängigkeit liegt also innerhalb der EU…
…ja. Aber die deutsche Lieferkette ist schon stark diversifiziert. Nur elf Prozent der Güter werden aus fünf oder weniger Ländern bezogen. Wo es für einzelne Güter größere Abhängigkeiten gibt, wäre die Empfehlung tatsächlich zu diversifizieren sowie auf mehrere Zulieferer oder Lagerbestände zu setzen.
Auf die Chip-Knappheit reagiert Südkorea mit Milliardeninvestitionen für Produktionsstätten, auch Intel will in den USA aufstocken. Was sollte Europa tun?
In erster Linie müssen die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Das ist der Königsweg. Wir haben in der Corona-Krise beobachtet, dass Protektionismus wieder auf dem Vormarsch ist. Für die deutsche Exportwirtschaft ist das Gift. Deswegen ist auch die Wiederbelebung der Welthandelsorganisation eine politische Priorität. Mit der neuen Generaldirektorin bietet sich jetzt eine Chance für Reformen unter Führung der USA und der EU. Alternativ bieten bilaterale Freihandelsabkommen eine Chance, um bessere Rahmenbedingungen zu schaffen und die Robustheit der Lieferketten zu erhöhen.
Der Aufbau einer eigenen Chip-Produktion würde aus Ihrer Sicht wenig Sinn machen?
Im Endeffekt ist das eine unternehmerische Entscheidung.
Sie haben angedeutet, dass Sie die Engpässe als eher vorübergehend sehen. Aber die Explosion bei vielen Preisen nicht nur für Baustoffe dürfte uns eine Weile begleiten. Was ist der volkswirtschaftliche Preis, den wir dafür zahlen?
Für einige Branchen und Güter mag es eine Weile problematisch bleiben. Aber ich glaube, die Produktion wird sich irgendwann wieder anpassen. Deswegen sehe ich diese Engpässe tatsächlich als eine vorübergehende Situation. Und klar, wenn wir aus zweifachem Grund angebots- und nachfrageseitig Engpässe beobachten, dann treibt das natürlich die Preise in die Höhe. Aber ich denke, auch das ist vorübergehend und wird sich im Lauf des Jahres normalisieren.
Mit Lisandra Flach sprach Marina Zapf
Das Interview erschien zuerst bei Capital.de
Quelle: ntv.de