Wirtschaft

Geflüchtete am Arbeitsmarkt "Eigentlich ist das Leben zu kurz, um Deutsch zu lernen"

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Mohamad Houria arbeitet seit 2020 als Buchhalter für die GASAG AG.

Mohamad Houria arbeitet seit 2020 als Buchhalter für die GASAG AG.

Als Sechsjähriger sammelt er im Bus in Syrien das Geld von Fahrgästen ein. Heute arbeitet er als Buchhalter der GASAG für einen der größten Energieversorger Berlins. Mohamad Houria ist einer von 559.000 Geflüchteten, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben.

Die Finger von Mohamad Houria fliegen über die Tastatur. In gleichmäßigem Stakkato klickt er sich durch eine Reihe von Dokumenten, lange Zahlenreihen ziehen sich über den Computerbildschirm. "In einer Minute ist Feierabend", raunt eine Frauenstimme im Hintergrund. Nicht für Houria. Er geht erst, wenn die Arbeit erledigt ist - und noch ist reichlich zu tun.

Houria rückt seine Brille zurecht. Am Nachbartisch türmen sich Büromaterialien, Kaffeetassen stapeln sich neben leeren Brötchentüten. An Hourias Platz hingegen herrscht Ordnung. Mit zusammengezogenen Augenbrauen lehnt er sich vor. Dann versetzt er seinen Rechner mit einem flinken Mausklick in den Ruhezustand und dreht sich um: "Zigarettenpause?"

Hourias Arbeitsplatz liegt im sechsten Stock der GASAG AG in Berlin-Schöneberg. Seit 2020 arbeitet der 26-jährige Syrer als Buchhalter in der Finanzabteilung des Energieunternehmens. Die Aufgaben gehen ihm leicht von der Hand. "Er ist gewissenhaft und vor allem schnell", sagt seine Chefin, Stephanie Ranneberg. Wenn Houria mal im Urlaub ist, mache sich das gleich bemerkbar. "Dann dauert alles etwas länger." Es sei nicht leicht gewesen, einen unbefristeten Vertrag für ihn zu bekommen. Aber am Ende habe es doch funktioniert. "Wir freuen uns riesig, dass er bei uns bleiben kann", sagt Ranneberg.

Internationale Auszubildende bei der GASAG

Als einer der größten regionalen Energieversorger der Stadt zählt die GASAG-Gruppe rund 1700 Mitarbeitende. Houria ist einer von ihnen. Genauer gesagt, ist er einer von sechs. In den Jahren 2016 und 2017 bot das Berliner Unternehmen ein spezielles Ausbildungsprogramm für Menschen mit Fluchterfahrung an. "Inmitten der Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016 haben wir uns als Unternehmen in der Verantwortung gesehen, zu helfen", erinnert sich Carolin Marggraff. Sie ist seit 2003 bei der GASAG beschäftigt und leitet das Team "Recruiting & Employer Branding". "Einige Kolleginnen und Kollegen haben während ihrer Arbeitszeit in Flüchtlingsunterkünften ausgeholfen." Gleichzeitig habe sich die Führungsebene gefragt, wie eine Integration in den Ausbildungsprozess aussehen könnte: Was kann das Unternehmen leisten? Was ist realistisch und hilft am Ende wirklich?

2016 startete das Modell mit den ersten drei Auszubildenden. Für die Auswahl hatte sich das Unternehmen viel Zeit genommen, zahlreiche Bewerbungen gesichtet und intensive Gespräche geführt. Gemeinsam mit einem Iraner und einem Afghanen machte Houria nach einem zweiwöchigen Praktikum das Rennen und begann die Ausbildung zum Industriekaufmann.

"Der Schlüssel eines Landes ist die Sprache"

Mit hochgezogenen Schultern steht Houria fröstelnd im überdachten Empfangsbereich der GASAG und nimmt einen Zug von seiner E-Zigarette. Peach Ice steht auf dem kleinen Glasbehälter. Houria grinst: "Ob das wirklich gesünder ist als normale Zigaretten, weiß niemand so genau. Aber wenigstens stinkt es nicht und der Hals kratzt auch weniger." Hourias Deutsch ist gut. Ab und zu hält er einen Moment inne, auf der Suche nach dem richtigen Wort. Manchmal gerät der Satzbau etwas durcheinander. Dann lächelt er entschuldigend. Ein Freund habe mal gesagt: "Eigentlich ist das Leben zu kurz, um Deutsch zu lernen." Houria hat es trotzdem getan. Der Weg dahin war alles andere als leicht.

Als eines von fünf Kindern wächst Houria in Syrien auf. Bereits mit sechs Jahren beginnt er zu arbeiten, sammelt bei den Busfahrten seines Vaters das Geld der Fahrgäste ein. Später hilft er in einem Friseurgeschäft aus, arbeitet in einer Schneiderei und einem Logistikunternehmen. Mit 18 Jahren macht Houria das Abitur und beginnt, zu studieren. Doch in Syrien herrscht Krieg. Mit seinem Bruder flieht Houria in die Türkei. Das Leben dort ist schwierig, bleiben keine Option. In einem Boot wagen sie die Überfahrt nach Griechenland. "Das war schrecklich", erinnert sich Houria. Zu Fuß und mit dem Zug schlagen sich die Brüder nach Deutschland durch und stranden in Berlin.

Die Hoffnung auf eine bessere Zeit wird Houria schnell genommen. "Nach unserer Ankunft begann eigentlich die schwierigste Phase", sagt er leise. Über ein Jahr lebt Houria in einer Turnhalle. Das ihm zugeteilte Bett hängt er notdürftig mit Bettlaken ab. "Das war wie in einem kleinen Zelt." Monate ziehen in einem Wust aus Behördengängen und Bürokratendeutsch an ihm vorbei. Schließlich kann sich Houria für einen Integrationskurs anmelden. Schnell wird ihm klar: "Der Schlüssel eines Landes ist die Sprache." Also lernt er.

Auch die GASAG unterstützt ihre Auszubildenden mit individuellen Deutschkursen. "Deutschlernen war das A und O", betont Personalerin Marggraff. Vom zentralen Unterricht, über Gruppenseminare bis hin zum Abendkurs: Mit allen Mitteln habe sich das Unternehmen bemüht, das Niveau so schnell wie möglich zu steigern. "Neben den sprachlichen Hürden standen unsere Auszubildenden außerdem vor diesem unglaublichen bürokratischen Dickicht", sagt sie. "Aufenthaltsgenehmigungen, Gerichtstermine, Asylverfahren – wir haben unsere Azubis unterstützt, wo es nur ging."

Fortschritte in der Arbeitsmarktintegration

Das Programm der GASAG war erfolgreich. Alle sechs Teilnehmenden schließen ihre Ausbildung ab, zwei arbeiten noch heute im Betrieb. Nach seiner Übernahme ist Houria damit nicht mehr nur einer von sechs. Er ist auch einer von rund 559.000. Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt: Etwa 559.000 und damit 54 Prozent der 2015 nach Deutschland Geflüchteten waren im Jahr 2021 berufstätig. Bei Verlängerung des Aufenthalts um ein Jahr liegt der Wert sogar bei 57 Prozent.

Für Wido Geis-Thöne sind diese Zahlen der Beleg für eine positive Entwicklung. "Wir sehen große Fortschritte bei der Arbeitsmarktintegration", sagt der Senior Economist für Familienpolitik und Migrationsfragen am Institut der deutschen Wirtschaft im Interview mit ntv.de. Doch sprachliche Anforderungen und unsichere Bleibeperspektiven erschwerten den Prozess weiterhin.

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"Es braucht die Bereitschaft und den Einsatz der einzelnen Unternehmen", bestätigt auch GASAG-Personalerin Marggraff. Gesetzesreformen, die nach langwierigen Verfahren kaum zu Erleichterungen führten, würden nicht reichen. Fluchtmigration allein könne den deutschen Fachkräftemangel zwar nicht lösen. "Aber unser Projekt ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich die Investition trotzdem lohnt." Noch ist keine weitere Durchführung des Ausbildungsmodells geplant, doch das Unternehmen sei stets offen für jede Art von Bewerbung.

Zurück im Büro hängt Houria seine Jacke über die Stuhllehne und öffnet das Mailpostfach. "Ich habe einen guten Weg gefunden, Mails in besonders schönem Deutsch zu schreiben", sagt er. Dafür gebe er die nötigen Begriffe bei ChatGPT ein und der Chatbot liefere in Sekundenschnelle die ausformulierte Nachricht. "Gewusst, wie", sagt Houria lachend. Dass er bei der GASAG bleiben will, ist gewiss. Ansonsten plant er nicht weit in die Zukunft, schon die Urlaubsplanung bereitet ihm Schwierigkeiten. Dabei kann Houria künftig ganz uneingeschränkt reisen. Seit zwei Monaten besitzt er offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft. "Das war mein Highlight dieses Jahr", sagt er lächelnd.

Quelle: ntv.de

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