Kleines Land mit großen Schulden Warum jetzt Belgien wackelt
30.11.2010, 11:46 UhrDie Schuldenkrise in Europa zieht immer weitere Kreise. Nun gerät mit Belgien ein Land ins Visier der Märkte, das bislang eher als Sitz wichtiger EU-Institutionen denn als Wackelkandidat galt. Hier sind es jedoch nicht schwache wirtschaftliche Strukturen, die das Land lähmen, sondern die unklare politische Zukunft.
Griechenland, Irland, Portugal - die Schuldenkrise in der Euro-Zone konzentriert sich bislang auf Länder am Rande der Währungsunion. Doch immer häufiger wird mit Belgien ein Kernland der Europäischen Union als Wackelkandidat genannt. Rückt die Schuldenkrise bis vor die deutsche Haustür? Trifft sie ausgerechnet das Land, dessen Hauptstadt Brüssel die EU-Kommission und das EU-Parlament beherbergt?
Belgien trägt die dritthöchste Schuldenlast aller 16 Euro-Staaten - nach Griechenland und Italien. Das kleine Land hat in den vergangenen Jahren einen Schuldenberg angehäuft, der fast genauso groß ist wie seine jährliche Wirtschaftsleistung. Bis 2012 wird das Defizit auf 102,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes steigen, sagt die EU-Kommission in ihrer Herbstprognose voraus. Erlaubt sind nach den EU-Verträgen nur 60 Prozent. Und auch bei der jährlichen Neuverschuldung wird die Obergrenze von drei Prozent seit 2009 gerissen. 2012 dürfte sie mit 4,7 Prozent deutlich über dem Grenzwert liegen.
Immobilien- und Bankensektor in Schuss
Auf dem zweiten Blick steht Belgien wirtschaftlich aber gar nicht so schlecht da. "Das Land kämpft weder mit einer Immobilien- noch mit einer Bankenkrise", sagt Commerzbank-Volkswirt Christoph Weil. "Die strukturellen Probleme sind viel geringer als etwa in Irland." Und Belgien profitiert vom Aufschwung Deutschlands, seinem wichtigsten Handelspartner. Ein robustes Wirtschaftswachstum von jeweils rund zwei Prozent traut die EU-Kommission ihrem Gastgeberland deshalb bis 2012 zu.
Es sind daher weniger die wirtschaftlichen Fakten, derentwegen Belgien als Wackelkandidat gilt. Es ist die politische Zerrissenheit und der tiefe Graben zwischen Flamen und Wallonen, weshalb der kleine Nachbar immer häufiger in einen Topf mit anderen Krisenländern geworfen wird. "Wenn die politische Krise nicht schnell gelöst wird, dass erscheint eine Finanzkrise fast unausweichlich", befürchtet Paul de Grauwe, Professor an der Katholischen Universität Löwen.
"Ohne Regierung gibt es Probleme"
Seit den Wahlen im Juni steht das Land ohne Regierung da. Im Parlament hat eine Partei die meisten Sitze bekommen, die das niederländisch sprechende Flandern vom französisch-sprachigen Wallonien abspalten will. Die Übergangsregierung von Ministerpräsident Yves Leterme bekam zwar den Haushalt für 2010 durch das Parlament. "Aber ohne Regierung wird es Probleme geben, harte Maßnahmen durchzusetzen", sagt Analyst Peter Chatwell von Credit Agricole.
Wegen der Schuldenkrise mussten die Regierungen von Griechenland, Spanien, Portugal und zuletzt Irland riesige Sparpakete schnüren. Sie bürden der Bevölkerung hohe Lasten auf: Höhere Steuern, geringere Löhne, niedrigere Renten. Kann so etwas im Ernstfall auch Belgien durchdrücken?
"Ein äußerer Feind schweißt zusammen"
An den Märkten wachsen die Zweifel. Die für das Schuldenmanagement verantwortliche Finanzagentur verkaufte zu Wochenbeginn zwar Staatsanleihen im Wert von zwei Milliarden Euro. Doch dafür stieg der Risikoaufschlag für zehnjährige Bonds im Vergleich zu der als nahezu ausfallsicher geltenden deutschen Bundesanleihe auf den höchsten Stand seit Anfang Juni. Der Markt erkenne allmählich das belgische Schuldenproblem, sagt Chatwell. "Und deshalb ist der Risikoaufschlag deutlich gestiegen."
Allerdings sind die Optimisten in der Überzahl, die Belgien zutrauen, die Probleme in den Griff zu bekommen - so wie Ende 2008 auf dem Höhepunkte der Finanzkrise, als die Großbank Fortis aufgespalten wurde und ein Staatsfonds Milliarden in die Finanzinstitute Dexia und KBC pumpte. "Wenn wir eine Krise bekommen, würden die Übergangsregierung und die anderen Parteien zusammenfinden", sagt Politikprofessor Carl Devos von der Universität in Gent. "Wir würden dann einen äußeren Feind haben. Das würde zusammenschweißen."
Quelle: ntv.de, rts