Nicht ob, sondern wann EZB-Leitzinssenkung kommt
05.10.2011, 11:12 Uhr
Lieber noch einmal nachrechnen: EZB-Präsident Trichet.
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Die Unruhe an den Finanzmärkten ist das alles beherrschende Thema derzeit. Mit einer Leitzinssenkung könnte die EZB die Nervosität weiter anheizen. Andererseits wird die Notenbank um einen Zinsschritt nicht herumkommen. Die Frage ist also nicht ob, sondern wann - und da erscheint, "noch 2011" ein immer wahrscheinlicheres Szenario zu werden.
Die Erwartungen von Bankvolkswirten hinsichtlich des Zinskurses der Europäischen Zentralbank (EZB) haben sich unter dem Eindruck der zugespitzten Finanzkrise im Euroraum und der damit einhergehenden reduzierten Prognosen für Wachstum und Inflation weiter geändert. Wie aus einer aktuellen Umfrage von Dow Jones Newswires unter 33 Volkswirten hervorgeht, rechnen die Experten überwiegend damit, dass die EZB spätestens bis zum Ende des ersten Quartals 2012 ihren Leitzins senken wird.
Selbst für die Ratssitzung am Donnerstag wird eine Zinssenkung nicht völlig ausgeschlossen. Zinserhöhungen erwartet nun keiner der befragten Experten mehr. Damit haben sich die Prognosen für die EZB-Leitzinsen seit Frühjahr dieses Jahres komplett gedreht.
Zinssenkung wird beliebter
5 von 45 befragten Experten - 17,8 Prozent - rechnen für den 6. Oktober mit einer Zinssenkung. Am Ende des vierten Quartals sehen 20,6 Prozent der Experten den Leitzins bei 1,25 Prozent und 23,6 Prozent sogar bei 1,00 Prozent. Das würde bedeuten, dass die EZB ihre Zinsen wenn nicht in dieser Woche, dann bei einer oder beiden der in diesem Jahr noch stattfindenden Ratssitzungen senken müsste. In der Mehrheit sind mit 55,9 Prozent aber noch jene Volkswirte, die den Hauptrefinanzierungssatz unverändert bei 1,50 Prozent sehen. Im September waren es noch 94,9 Prozent gewesen.

Was macht die EZB? Die Märkte sind gespannt, ob es noch 2011 eine Zinssenkung geben wird. An eine Erhöhung glauben sie nicht.
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Für Ende des ersten Quartals 2012 wird dann auch mehrheitlich ein erster Zinsschritt unterstellt. 45,7 Prozent der Befragten prognostizieren einen Leitzins von 1,00 Prozent und 8,6 Prozent einen von 1,25 Prozent, während immerhin noch 42,9 Prozent einen unveränderten Leitzins sehen.
Auch mit Blick auf Juni 2012 überwiegt der Anteil jener Volkswirte, die einen Leitzins von 1,00 Prozent oder 1,25 Prozent erwarten, deutlich. Der Anteil jener Befragten, die für Juni 2012 noch einen Hauptrefinanzierungssatz von 1,50 Prozent voraussagen, reduzierte sich gegenüber September auf 48,5 PRozent von zuvor: 70,6 Prozent.
J.P. Morgan und Bank Sarasin sind mutig
"Wir glauben, dass die EZB den entschlossenen Schritt unternehmen wird, ihren Leitzins um 50 Basispunkte auf 1,00 Prozent zu senken", heißt es in einer Veröffentlichung von J.P. Morgan. Die Bank rechne außerdem mit der Wiederaufnahme von Käufen gedeckter Schuldverschreibungen und von zwölfmonatigen Refinanzierungsgeschäften. Die Zinserwartung begründet J.P. Morgan auch mit den zuletzt gesenkten Stabsprognosen für Wachstum und Inflation.
Alesandro Bee von der Bank Sarasin erwartet, dass "die EZB aufgrund der gestiegenen Rezessionsängste und Liquiditätsprobleme eine Zinssenkung vornehmen wird". Er prognostiziert, dass die EZB ihren Leitzins in dieser Woche auf 1,25 Prozent und bis Ende Dezember auf 1,00 Prozent reduzieren wird.
Unveränderter Leitzins bis Mitte 2012?

Senkt die EZB die Leitzinsen, wird die Unruhe an den Finanzmärkten eher noch zunehmen. Oder vielleicht auch nicht?
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Die Commerzbank geht davon aus, dass die EZB den Leitzins bis Jahresende auf 1,25 Prozent und bis Ende März 2012 auf 1,00 Prozent gesenkt haben wird. Auch sie verwies auf die deutlich reduzierten Wachstumsprojektionen - und erwartet für das Winterhalbjahr eine Rezession. Die Bank hält sowohl eine Senkung des Leitzinses als auch eine Reduzierung des Einlagensatzes für möglich, da die Geldmärkte auch auf letzteres reagieren würden. Wahrscheinlicher sei wegen der großen wirtschaftlichen Risiken aber eine "direkte Lockerung" über den Hauptrefinanzierungssatz.
Eine nicht kleine Gruppe von Experten geht indessen von unveränderten Leitzinsen bis zur Mitte nächsten Jahres aus. So nimmt Kathrin Clasen von der HSH Nordbank an, dass die EZB lediglich ihren Leitzinserhöhungszyklus aussetzen und unkonventionelle Maßnahmen beschließen wird. Christian Lips von der Nord/LB argumentiert: "Angesichts noch sehr hoher Inflationsraten in Euroland dürfte die EZB vorerst abwarten und keine Zinsanpassung vornehmen. Und Alexander Krüger, Chefvolkswirt des Bankhauses Lampe, befand: "Senkt die EZB die Leitzinsen, wird die Unruhe an den Finanzmärkten eher noch zunehmen."
Prognosen deutlich pessimistischer
Die Erwartungen der Ökonomen hinsichtlich des Wachstums haben sich weiter reduziert. Für 2011 und 2012 prognostizieren sie einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 1,6 Prozent nach zuvor 1,7 Prozent sowie 1,0 Prozent nach bisher 1,2 Prozent. Die Inflationsprognosen blieben mit 2,5 Prozent und 1,8 Prozent unverändert.
Die Prognosen für die mittelfristige Entwicklung des Euro-Dollar-Kurses sanken spürbar. Die Befragten sehen den Euro auf Sicht von drei, sechs und zwölf Monaten bei 1,35 Dollar nach bisher 1,42 Dollar; 1,35 Dollar nach 1,43 Dollar und 1,40 Dollar nach 1,43 Dollar. Aktuell notiert die Gemeinschaftswährung bei etwa 1,33 Dollar.
Für die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen auf Sicht von drei, sechs und zwölf Monaten werden 2,10 Prozent, 2,2 Prozent und 2,6 Prozent erwartat statt der bisher prognostizierten 2,50 Prozent, 2,7 Prozent und 3,0 Prozent.
Quelle: ntv.de, Hans Bentzien, DJ