Kolumnen

Inside Wall Street Absurde Rekordjagd

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(Foto: AP/dpa)

An der Wall Street scheinen die Kurse derzeit nur eine Richtung: nach oben. Doch die Stimmung auf dem Parkett bleibt zurückhaltend - und das aus guten Gründen.

Ein Gang über das Parkett der New Yorker Börse zeigt zur Zeit auch dem Laien, dass etwas nicht stimmt: Die Händler, stehen an ihren Schranken, tratschen grüppchenweise über Familie und Football, futtern Pizza – wie immer. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass die Börse auf Rekordjagd ist. An sechs Handelstagen in Folge schloss der Dow Jones mit einem Allzeithoch, eigentlich sollte hier alle paar Minuten ein Champagnerkorken knallen.

Doch von Champagner will man nichts wissen. Und das hat nichts mit den rechnerischen Einwänden der Besserwisser zu tun, die ein Allzeithoch erst markieren wollen, wenn die Blue Chips bei 15.731 Punkten liegen und damit auch inflationsbereinigt die alte Rekordmarke übersprungen haben. Nein, die verhaltene Stimmung auf dem Parkett gründet eher darauf, dass man weiß, dass die Börse längst keine Realität mehr widerspiegelt. Amerika hat zwei Wirtschaftswahrheiten – die an der Börse, und die draußen im Land.

Draußen im Land – oder sogar auf der halben Welt – sieht es nicht aus, als würden irgendwelche Rekorde gebrochen. Die Arbeitslosigkeit in den USA mag zwar langsam sinken, ist aber noch immer bedrohlich hoch. Der "Sequester", der Barack Obamas Regierung seit zwei Wochen auf einen Sparkurs zwingt, der das Land nach Ansicht zahlreicher Experten wieder in eine Rezession stürzen könnte, ist mit Sicherheit nicht in die aktuellen Aktienkurse eingepreist.

In Europa ist die anhaltende Krise um den Euro längst nicht ausgestanden. Führenden Staaten droht ein Sparkurs, der die Maßnahmen in Washington alt aussehen lässt, und von Währungsstabilität ist nichts zu sehen. Die Weltbank hat gerade ihren Ausblick für das globale Wachstum deutlich reduziert. Selbst im Boomland China zeichnet sich ein wirtschaftlicher Rückgang ab.

Doch zurück nach Amerika: Eine aktuelle Studie in den USA warnt vor einer erneuten Kreditkrise. Nach den Hypotheken und neben der Gefahr von Seiten der Kreditkartenschulden sorgen sich Ökonomen zunehmend um die Studienkredite, die immer mehr amerikanische Schulabsolventen über Jahrzehnte nur mühsam abstottern können. Andere sorgen sich zurecht um den Arbeitsmarkt. Selbst wenn die Zahlen auf eine Verbesserung deuten, ist unklar, was für Jobs in den USA zur Zeit geschaffen werden. Führen neue Positionen junge Arbeitnehmer in eine stabile Zukunft oder in ewige Versklavung in irgendeinem Amazon-Versandzentrum? Nichts deutet darauf hin, dass Amerika zur Zeit hochwertige Stellen für qualifizierte Fachkräfte schafft. Die gibt es auch kaum, was an einem immer schwächeren Schulsystem liegt – davon wiederum geht eine Langzeitgefahr für die USA, und ein Stück weit für die Weltwirtschaft, aus.

Vor all dem Hintergrund hangelt sich der Dow Jones locker und täglich von einem Rekord zum nächsten. Auch Börsenanfänger wissen, dass der Markt seit 2009 ohne Korrektur steigt, und dass er massiv überverkauft ist. Insider wissen, dass davon nur ein winziger Teil der US-Bevölkerung profitiert. Nur rund 20 Prozent der Amerikaner besitzen Aktien, und die Hälfte aller Kapitalerträge gehen nicht an das oberste Prozent der Bevölkerung, sondern an das oberste Zehntel des obersten Prozents. Das oberste Prozent wiederum verfügt zur Zeit über 40 Prozent des gesamten amerikanischen Wohlstands. Die Schere zwischen Reich und Arm öffnet sich immer weiter – das Land lebt mit zwei ökonomischen Wahrheiten.

Man mag das okay finden, wenn man, wie viele an der Börse, über ausreichend Zynismus verfügt und einen bedingungslosen und uneingeschränkten Kapitalismus mag. Ansonsten muss man die aktuelle Lage bedenklich finden. Denn für die Stabilität eines Wirtschaftssystems sind eben nicht nur Superreiche notwendig, sondern auch qualifizierte Arbeiter, gut ausgebildete junge Leute, optimistische und kaufkräftige Verbraucher – unterm Strich: ein stabiler Mittelstand. Das alles ist in den USA nicht mehr gegeben.

Ein Blick auf die Börsencharts ist zur Zeit irreführend. Ein Blick auf das Parkett, wo Trader fast beschämt dreinschauen, erklärt die Hintergründe. Und mahnt zur Vorsicht. Denn viele Experten sprechen von Panikkäufen, von Anlegern, die jetzt zuschlagen um die seit Jahren anhaltende Rallye nicht zu verpassen. Panikkäufe sind ein sicheres Signal für ein Börsenhoch und für anstehende Verluste. Die stehen unmittelbar bevor, wenn die amerikanischen Aktienmärkte auch nur noch einen Schatten Realität widerspiegeln.

Quelle: ntv.de

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