Kollaps der deutschen Industrie "China sieht uns nicht mal mehr im Rückspiegel"
26.10.2025, 06:36 Uhr Artikel anhören
Der Blick vom Alsumer Berg mit Gipfelkreuz auf das Stahlwerk Schwelgern von Thyssenkrupp: Ein Zukunftspapier des Konzerns sieht den Abbau von 11.000 Arbeitsplätzen vor
(Foto: picture alliance / Panama Pictures)
In der deutschen Industrie gehen seit 2018 kontinuierlich Arbeitsplätze verloren. Laut Arbeitsmarktexperten fallen derzeit jeden Monat etwa 10.000 Stellen weg. Viele Unternehmen liebäugeln offen mit dem Abschied aus Deutschland. Sie beklagen einen tödlichen Cocktail aus erdrückender Bürokratie, hohen Energie- und Lohnnebenkosten. Lässt sich der Trend stoppen? Darüber diskutieren Claudia Kemfert, Sabine Nallinger und Sepp Müller in dieser Live-Ausgabe des Podcasts "Klima-Labors": Was bringt ein Industriestrompreis? Ist bezahlbarer grüner Wasserstoff realisierbar oder eine Fantasie? Müssen wir der Industrie zuliebe zum russischen Gas zurückkehren? Muss der Staat bei wichtigen Unternehmen einsteigen? Hilft letztlich doch nur der Kahlschlag beim Klimaschutz?
ntv.de: Frau Nallinger, beginnen wir mit einer Bestandsaufnahme: Wie ist die Lage der Industrie?
Sabine Nallinger: Bei uns in der Stiftung Klimawirtschaft sind Unternehmen aus allen relevanten Branchen der deutschen Wirtschaft vertreten. Das Fatale ist: Fast allen geht es schlecht. Ich höre in fast allen Gesprächen, dass die letzten Jahre sehr hart waren. Die Industrie verliert seit 2018 kontinuierlich Arbeitsplätze.
Claudia Kemfert ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität in Lüneburg und Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).
Sabine Nallinger ist seit 2014 Vorständin der Stiftung Klimawirtschaft in Berlin. Die Stiftung ist eine Initiative von Vorstandsvorsitzenden, Geschäftsführern und Familienunternehmern, um sektor- und branchenübergreifend Klimaschutz und Nachhaltigkeit für eine erfolgreiche deutsche Industrie zu fördern.
Sepp Müller sitzt seit 2017 für den Wahlkreis Dessau-Wittenberg im Bundestag. Er ist stellvertretender Fraktionschef von CDU/CSU sowie Fraktionssprecher für Wirtschaft und Energie.
Seit 2018?
Sabine Nallinger: Ja. Die Situation wird häufig mit der Ampel in Verbindung gebracht, aber der Stellenabbau hat früher begonnen. Das Gesamtbild ist dramatisch. Auch, weil kein Aufbruch in Sicht ist. Darauf warten alle. Die Baubranche hat auf einen Baubooster gehofft. Den hat die neue Bundesregierung angekündigt, bisher bleibt er aber leider aus.
Die deutsche Industrie steht in allen Bereichen am Abgrund?
Sabine Nallinger: Die Zahlen sehen nicht gut aus, aber die Probleme gehen über das Wirtschaftliche hinaus: Weltweit findet ein Rechtsruck statt, uns brechen Partner und Freunde wie die USA weg. Diese Orientierungslosigkeit erfasst die Unternehmen und die Bevölkerung.
Wie fällt Ihre Bestandsaufnahme nach gut fünf Monaten Schwarz-Rot aus, Sepp Müller?
Sepp Müller: Unsere Energiepreise sind nicht wettbewerbsfähig. Wir haben die höchsten Lohnnebenkosten. Wenn wir nicht gegensteuern, werden sie Ende der 2020er-Jahre bei 45 Prozent liegen und Mitte der 2030er-Jahre bei 50 Prozent. Dazu kommt extrem viel Bürokratie. Dieser Dreiklang an strukturellen Problemen hat sich mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine deutlich verschärft. In einer neuen Allensbach-Umfrage sagen 94 Prozent der energieintensiven Unternehmen, dass sie das Land verlassen wollen. Das ist ein Alarmzeichen.
Teilen Sie diese Analyse, Frau Kemfert?
Claudia Kemfert: Die hohen Energiekosten sind ein beliebtes Argument, aber das ist nicht der ausschlaggebende Grund für die Probleme. Klar, die sind für energieintensive Unternehmen ein Problem. Aber diese hohen Preise zahlt nur ein kleiner Teil der Industrie. Für die meisten Unternehmen sind die Probleme eher der hohe Verbrauch und die verschleppte Energiewende, denn erneuerbare Energien senken die Energiekosten nachweislich. Die großen Herausforderungen sind eher die internationalen Entwicklungen und die Tatsache, dass deutsche Unternehmen Zukunftsmärkte wie die Elektromobilität verschlafen haben.
Einem Stahlunternehmen helfen doch weder erneuerbare Energien noch ein vergünstigter Strompreis. Seien wir ehrlich: Eine Stahlfirma ist ohne günstiges russisches Gas aufgeschmissen.
Claudia Kemfert: Nein. Es war von vornherein hochproblematisch, dass wir uns von russischem Gas abhängig gemacht haben. Diesen Preis zahlen speziell gasintensive Betriebe bis heute. Für Stahlunternehmen ist das Allerbeste grüner Wasserstoff.
Den gibt's doch aber nicht.
Claudia Kemfert: Der kann und sollte aber hergestellt werden, und zwar mit Ökostrom. In diesem Bereich müsste man investieren, so wie China. Das ist der Schlüssel. Ein spezieller Industriestrompreis wäre ökologisch und ökonomisch unsinnig und kontraproduktiv. Damit verschleppt man die Transformation erneut.
Dieses Interview ist eigentlich ein Podcast, den Sie auch anhören können.
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Ist Wasserstoff für die Stahlindustrie tatsächlich die Lösung? Wir hören: Der ist zu teuer und für den Transport fehlt das Netz.
Sabine Nallinger: In unserer Stiftung engagieren sich mit Salzgitter und Thyssenkrupp zwei Stahlkonzerne und beide beschreiten unterschiedliche Wege: Salzgitter setzt dezidiert auf grünen Wasserstoff und investiert dafür massiv in Offshore-Windenergie. Nächstes Jahr könnte Salzgitter grünen Stahl produzieren, aber dafür fehlt tatsächlich das Netz. Das ist fatal.
Wäre dieser Stahl am Markt konkurrenzfähig?
Sabine Nallinger: Die globalen Stahlpreise sind in der Tat gesunken, denn China betreibt mit einer Klarheit und einem Tempo Industriepolitik … wir kommen einfach nicht mehr hinterher. Das betrifft nicht nur die Stahlindustrie. Ich habe vor elf Jahren in der Stiftung angefangen. Schon damals haben mir Wirtschaftsvertreter gesagt, dass Deutschland eine Industriepolitik benötigt. Die Politik hat immer erwidert: Frau Nallinger, die Unternehmen wollen nicht gesteuert werden, sondern einen freien Markt.
Und jetzt einen Industriestrompreis.
Sepp Müller: Letztlich sind Energiepreise für die energieintensive Industrie das entscheidende Kriterium. Mein letzter Stand ist: Wir verlieren mittlerweile sogar 15.000 Industriearbeitsplätze im Monat. Daran hängen Familien und Schicksale. Deswegen muss ich Frau Kemfert widersprechen. Wir sehen auch beim Wasserstoff, dass Unternehmen wie ArcelorMittal sich dafür entscheiden, nicht mehr in Deutschland zu investieren, sondern in Frankreich, wo der Strompreis deutlich günstiger ist.
Weil er subventioniert wird.
Sepp Müller: Wir haben eine Industrieauslastung von 72 Prozent. In der chemischen Industrie ist aber erst ab 90 Prozent ein positives Ergebnis möglich. Diese Unternehmen gehen uns reihenweise von der Stange. Bei denen brauchen wir nicht von einer Umstellung reden, wir müssen alles dafür tun, sie hier im Land zu halten. Deswegen wird die Gasspeicherumlage abgeschafft, deswegen senken wir die Netzentgelte.
Claudia Kemfert: Wir haben in einer Studie dezidiert aufgelistet, welche Branchen welche Energiekosten zahlen. Wirklich hohe Energiekosten haben nur fünf bis sieben Prozent der Industrie. Die Energiepreise sind eine Komponente von vielen.
Sepp Müller: Aber was bedeutet denn "fünf bis sieben Prozent"? Schauen Sie sich das Chemiedreieck im Osten Deutschlands an: Der US-Chemiekonzern Dow wird bis Ende 2027 Teile seiner Anlagen in Sachsen und Sachsen-Anhalt stilllegen. Nur in Böhlen müssen 300 bis 500 Angestellte den Standort verlassen. Einige sagen mir dann: Das ist nicht so schlimm. Die energieintensive Industrie können wir einfach nicht halten. Dabei wird aber vergessen, dass an diesem Werk eine Wertschöpfungskette mit mehr als 3500 Arbeitsplätzen hängt. Das ist die verarbeitende Industrie, und ja, die benötigt tatsächlich viel weniger Energie.
Liegt die Wahrheit in der Mitte, Frau Nallinger?
Sabine Nallinger. Die Unterschiede zwischen den beiden Positionen sind gar nicht so groß. Fakt ist, dass wir in Deutschland vergleichsweise hohe Energiepreise haben, die unser wirtschaftliches Potenzial hemmen. Es ist aber auch die Regulatorik und die Tatsache, dass Unternehmen in Deutschland viel größere Schwierigkeiten haben, Investitionen für ihre Zukunftstechnologien zu finden, als in anderen Wirtschaftsräumen. Dabei können das neue Geschäftsfelder sein. Ich wundere mich immer, dass die oftmals als reiner Kostenfaktor angesehen werden, obwohl sie die Wirtschaft ankurbeln können.
Sepp Müller: Wir gehen den Wasserstoff-Hochlauf doch an, aber das Problem wurde genannt: In Sachsen-Anhalt hat man Pipeline, Elektrolyseur und grünen Wasserstoff für die Pharmaindustrie aus PV und Wind mit einem dreistelligen Millionenbetrag gefördert. Die Anlagen sind abgeschrieben, aber der Wasserstoff wird nicht abgerufen, weil er den Unternehmen zu teuer ist. Das allein kann also nicht die Lösung sein. Ich habe in dieser Debatte manchmal das Gefühl, dass die Stimmung besser ist als die Lage. Sprechen Sie mal mit den Betriebsräten vor Ort: Die Bänder stehen still, die sehen kein Licht am Ende des Tunnels.
Was schlagen Sie denn vor? Den Industriestrompreis haben Sie in der schwarz-roten Koalition doch bereits bei der EU durchgesetzt. Der wird auf 5 Cent je Kilowattstunde gesenkt.
Sepp Müller: Es ist ein bisschen komplizierter als das, aber ja: Es geht in die richtige Richtung.
Und wenn das nicht reicht? Die Wahrheit ist doch: Die deutsche Industrie ist mit heimischer Kohle und kurzen Transportwegen auf dem Rhein groß geworden. Das wird es unabhängig von grünem Wasserstoff oder russischem Gas nicht mehr geben. Die SPD spricht deshalb inzwischen offen vom Staatseinstieg bei Stahlunternehmen. Ist das im Sinne von CDU und CSU?
Sepp Müller: Wir halten wenig davon. Ich bezweifle, dass der Staat der bessere Unternehmer ist. Aber die Sozialdemokraten öffnen diese Diskussion zurecht, denn sie zeigt, wie dramatisch die Lage ist. Wir reden über die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes, aber stellen hierzulande keinen Panzerstahl mehr her? Das wäre doch verrückt.
Selbst CDU-Parteikollegen wie Ralph Brinkhaus stellen inzwischen aber infrage, ob wir überhaupt noch der richtige Standort für Schwerindustrie sind. Ist das die ehrliche Analyse, Claudia Kemfert?
Claudia Kemfert: Grundsätzlich können wir viele Industriebereiche in Deutschland halten. Die deutsche Autoindustrie ist wettbewerbsfähig, aber sie hat den Trend zur Elektromobilität verschlafen - auch, weil China diesen Bereich und auch die Solar- und die Windindustrie stark subventioniert hat. Das gehört ebenfalls zur Wahrheit. Jetzt sollten wir uns voll auf preiswerte Erneuerbare konzentrieren. Die Kosten für Solar und Wind in Kombination mit Batteriespeichern sinken massiv. Das ist die günstige Energie, die man kaufen kann. Wenn der Rahmen richtig gesetzt wird, kann damit auch eine stromintensive Industrie bestehen. Aber wenn das funktionieren soll, müssen wir aufhören, konventionelle Geschäftsmodelle aufrechtzuerhalten oder sogar zu subventionieren. Das sorgt nur dafür, dass wir diese Aufgabe ewig vor uns herschieben.
Für welche Branchen sind Sie optimistisch, für welche sehen Sie schwarz?
Claudia Kemfert: Ich bin Volkswirtin, den Strukturwandel gab und gibt es immer. Ich verstehe, dass Sepp Müller sehr auf einzelne Unternehmen in seinem Wahlkreis schaut, aber jede Veränderung kann neue Wettbewerbsvorteile bieten. Dafür muss man sich allerdings Richtung Zukunft bewegen.
Sabine Nallinger: Es ist eine Mär, zu glauben, dass wir in Deutschland und Europa die einzigen sind, die sich in diese Richtung bewegen oder sich mit Dingen wie dem Emissionshandel oder CO2-Steuern beschäftigen. Das gibt es auch in China. Wenn ich mit chinesischen Unternehmen spreche, sagen die inzwischen: Hey, wir sehen euch nicht mal mehr im Rückspiegel. Ihr habt uns doch angetrieben, wo bleibt ihr denn?
Ein wenig blöd, die anderen anzuspornen und dann stehenzubleiben …
Sabine Nallinger: Weil wir zaudern und zögern, das ist unser Problem! Mir sagen so viele Unternehmer: Wir sind technologisch immer noch gut dabei, aber wir bringen unsere Ideen und Entwicklungen einfach nicht auf die Straße. Wir müssen die Regulatorik abspecken und zusehen, dass unsere Unternehmen Investitionsmittel erhalten, wie sie in anderen Regionen üblich sind.
Was genau meinen Sie mit Regulatorik? Das verkommt auch zum Modewort.
Sabine Nallinger: Das kann sein, aber wenn ich mit Unternehmern spreche, sagen alle dasselbe: Es dauert Jahre, bis Dinge genehmigt sind. Das sieht man doch bei der Windkraft. Dort hat man das Problem allerdings erkannt und gelöst. In anderen Bereichen müssen wir noch in die Puschen kommen. Mir hat neulich ein Unternehmer gesagt, dass es Monate gekostet hat, ein Update von Microsoft durchzuführen, weil es im Betriebsrat datenschutzrechtliche Bedenken gab.
In der Wirtschaft mehren sich allerdings auch die Stimmen, die sagen: Wir sollten beim Klimaschutz kürzertreten: Verbrenner-Aus? Abschaffen. Emissionshandel? Abschaffen. Die CO2-Steuer für schmutzige Importe? Abschaffen.
Sabine Nallinger: Das sind einzelne Stimmen. Mir vermitteln Unternehmerinnen und Unternehmer ein anderes Bild: Sie halten in großen Teilen an der klimaneutralen Wirtschaft fest. Der Hauptgrund ist, dass wir den Weg schon so weit gegangen sind, dass es kein Zurück mehr gibt. Die meisten Unternehmen möchten diesen Weg aber auch deswegen fortsetzen, weil sie für sich bereits Zukunftsmärkte identifiziert haben - und manche möchten ihren Kindern und Enkelkindern tatsächlich einen Planeten hinterlassen, den auch künftige Generationen bewohnen können.
Claudia Kemfert: Klimaschutz schafft wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile und zukunftsfähige Jobs, wenn er klug gemacht ist. Deshalb halte ich diese Forderungen für hochproblematisch. Wollen wir wieder auf halbem Wege stehenbleiben und in 15 Jahren dieselbe Diskussion führen?
Wie sehen Sie diese Forderungen, Herr Müller?
Sepp Müller: Die Klimaschutzregeln gelten - auch deswegen, weil wir mit dieser Welt nicht verhandeln können. Wir müssen alles daransetzen, die CO2-Emissionen zu senken. Gleichzeitig merkt man natürlich nicht nur in Deutschland, sondern generell in Europa, dass die Spannungen zunehmen. Diese Stimmen werden nicht weniger werden, wenn Arbeitsplätze verloren gehen und Sozialstandards sinken.
Mit Claudia Kemfert, Sabine Nallinger und Sepp Müller sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.
Was hilft wirklich gegen den Klimawandel? Funktioniert Klimaschutz auch ohne Job-Abbau und wütende Bevölkerung? Das "Klima-Labor" ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen, Lösungen und Behauptungen der unterschiedlichsten Akteure auf Herz und Nieren prüfen.
Ist Deutschland ein Strombettler? Rechnen wir uns die Energiewende schön? Vernichten erneuerbare Energien Arbeitsplätze oder schaffen sie welche? Warum wählen Städte wie Gartz die AfD - und gleichzeitig einen jungen Windkraft-Bürgermeister?
Das Klima-Labor von ntv: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed
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Quelle: ntv.de