
19.200 Neuinfektionen täglich Ende des Jahres? Merkel warnt vor der Pandemie-Entwicklung in Deutschland.
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Mehr als 19.000 Neuinfektionen pro Tag seien zum Jahresende möglich - mit einer Modellrechnung sorgt Kanzlerin Merkel Anfang der Woche für Aufsehen. Denn so ein Szenario würde sogar die Hochphasen der Pandemie in den Schatten stellen. Doch es gibt erhebliche Zweifel an der Rechnung.
Eine Zahl zur weiteren Entwicklung der Corona-Pandemie in Deutschland sorgt für Aufsehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte Anfang der Woche, dass die Zahl der täglichen bestätigten Neuinfektionen zum Ende des Jahres bis auf 19.200 klettern könnte. Jedenfalls, wenn es so weiterginge wie in den vergangenen drei Monaten. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ergänzte bei ntv, er halte zu Weihnachten 20.000 neue Fälle pro Tag für "realistisch". Ein echter Schock: Bisher lagen die höchsten Tageswerte bei rund 6000 Neuinfektionen. Das war Ende März und Anfang April der Fall, zur Hochphase der Pandemie.
Aber wie kommt Merkel auf die 19.200? "Wir hatten Ende Juni, Anfang Juli an manchen Tagen 300 neue Infektionen. Und wir haben jetzt an manchen Tagen 2400 Infektionen", rechnete die Kanzlerin am Dienstag bei einer Pressekonferenz vor. Die Zahl habe sich in vergangenen drei Monaten also dreimal verdoppelt: von 300 auf 600, dann auf 1200 und schließlich auf 2400. Ginge es in diesem Tempo weiter, so Merkel, würde sich die Zahl in den kommenden drei Monaten ebenfalls dreimal verdoppeln: von 2400 auf letztendlich 19.200.
Doch ist diese Rechnung wirklich zulässig? ntv.de hat sich die beiden Ausgangswerte von Merkel einmal genauer angeschaut. Denn sie sind entscheidend für das Ergebnis. Bereits was den Ausgangswert 300 betrifft, den Merkel "an manchen Tagen" Ende Juni, Anfang Juli ausmacht, wirft ein Blick auf die offiziellen Daten des Robert-Koch-Insitituts (RKI) Fragen auf. Denn innerhalb von 14 Tagen - der letzten Juni- und der ersten Juliwoche - liegt die Zahl der Neuinfektionen an nur fünf Tagen unter 300 oder 400. An den restlichen neun Tagen, also der Mehrzahl, liegt der Wert jedoch über 400, an zwei Tagen sogar über 600.
Merkel pickt extreme Werte heraus
Das bedeutet: Merkel hat mit 300 einen Wert gewählt, der in diesem Zeitraum zu den niedrigen Werten zählt. Für die erste Juliwoche ergibt sich etwa ein Schnitt von 384 Neuinfektionen pro Tag. Was bereits erhebliche Auswirkungen auf die Gesamtrechnung hat. Hinzu kommt: Für Ende September wählt Merkel mit 2400 einen sehr hohen Wert. In der Woche vom 22. bis 28. September - einen Tag, bevor Merkel ihre Rechnung präsentiert - liegen die Neuinfektionen laut RKI nur an drei Tagen über 2000, der höchste Tageswert beträgt 2507. Im Schnitt gibt es in dieser Woche sogar nur 1856 Neuinfektionen pro Tag.
Dass die Zahlen innerhalb einer Woche zum Teil massiv schwanken, ist bekannt. Grund dafür sind unter anderem starke und schwache Meldetage im Wochenverlauf - so verzeichnet das RKI für Montage generell eher wenige Neuinfektionen, für Samstage generell eher viele. So fiel der Spitzenwert von 2507 Ende September ebenfalls auf einen Samstag - der Tiefstwert Anfang Juli bei 219 auf einen Montag.
Aber was bedeutet das für Merkels Rechnung? Die Kanzlerin wählt zwei extreme Werte aus - und kommt damit auf eine Verachtfachung der täglichen Neuinfektionen in den vergangenen drei Monaten. Und diese Verachtfachung wendet sie wiederum auf einen extrem hohen Wert an, um die Neuinfektionen für das Jahresende zu berechnen. Das bedeutet: Das Ergebnis ihrer Rechnung - 19.200 - ist extrem verzerrt, da die Schwankungen der Tageswerte nicht berücksichtigt werden.
Um diese Schwankungen auszugleichen, wird üblicherweise der 7-Tage-Schnitt verwendet. Dieser liegt in der ersten Juliwoche - wie gezeigt - bei 384 und Ende September bei 1856 Neuinfektionen pro Tag. Setzt man diese Werte in Merkels Formel ein, kommt man etwa auf eine Verfünffachung der Neuinfektionen in den vergangenen drei Monaten.
Aber man kann Merkels Rechnung auch auf andere Weise auf die Probe stellen: mit der vom RKI ermittelten 7-Tage-Inzidenz. Sie bildet die Fälle der letzten sieben Tage pro 100.000 Einwohner ab. Am 29. Juni lag die 7-Tage-Inzidenz deutschlandweit bei 3,5 und stieg bis zum 29. September auf 14,5 an. Demnach hat sich die Zahl der Neuinfektionen in diesem Zeitraum um den Faktor 4,1 erhöht. Auf Ende Dezember hochgerechnet ergäbe sich also eine 7-Tage-Inzidenz von knapp 60. Das wären umgerechnet in etwa 7000 Neuinfektionen pro Tag im 7-Tage-Schnitt. Allerdings heißt das nicht, dass es so kommen wird.
"Kein exponentielles Wachstum"
Auch bei Fachleuten gibt es Bedenken: "Merkwürdig" sei es, sagt etwa der Mathematik-Professor Moritz Kaßmann von der Universität Bielefeld gegenüber ntv.de, dass Merkel die Zahl 19.200 nenne. Er sieht "erhebliche Unschärfen" bei Merkels Berechnung mit Blick auf die Ausgangswerte 300 und 2400. "Würde man einen Tag früher oder später auswählen, käme man zu einem ganz anderen Ergebnis."
Doch Kaßmann sieht noch weitere Schwächen bei Merkels Berechnung: "Das größte Problem ist, dass sie ein exponentielles Wachstum der Infektionen unterstellt." Für ein exponentielles Wachstum müsste jedoch der R-Wert - die Reproduktionszahl, die besagt, wie viele weitere Menschen ein Infektiöser im Schnitt ansteckt - konstant größer als 1 sein, so Kaßmann. Doch auch in den vergangenen Tagen sank dieser Wert immer wieder unter 1 - zuletzt am Mittwoch. Von einem exponentiellen Wachstum könne also nicht die Rede sein.
Merkel betont in ihrer Erklärung aber auch, dass ihre Berechnung "die Dringlichkeit" unterstreiche, "dass wir handeln, und zwar dort handeln, wo wir ein solches wieder ins Exponentielle gehende Wachstum haben". Womit es ihr offensichtlich vor allem um die warnende Wirkung der Zahl 19.200 und weniger um eine möglichst korrekte Prognose ging. Zudem bedeuten Zweifel an Merkels Berechnung nicht, dass ein Wert von mehr als 19.000 Neuinfektionen pro Tag generell abwegig ist.
Blick in die Glaskugel
Wie viele Neuinfektionen es in Deutschland Ende des Jahres geben wird, gleicht einem Blick in die Glaskugel. Es könnten unter 100 oder vielleicht sogar 100.000 sein. Angesichts der immer noch sehr vielen Unbekannten dieser Pandemie kann das niemand verlässlich vorhersagen. Womöglich ist es aus Sicht der Kanzlerin eher geboten, vor einer negativen Entwicklung zu warnen, als - möglicherweise unangebrachten - Optimismus zu verbreiten.
Auch Mathematik-Professor Kaßmann findet es grundsätzlich gut, dass die Kanzlerin mittels einfacher Zahlenbeispiele versucht, die Bevölkerung zu sensibilisieren. "Man sollte jedoch nicht eine solche Präzision der Vorhersagen suggerieren", sagt Kaßmann über die von Merkel genannten möglichen 19.200 Neuinfektionen Ende des Jahres. Er fürchtet, dass die Bevölkerung das Vertrauen in die Wissenschaft verlieren könnte, wenn Werte, die für die Zukunft prognostiziert werden, präzise benannt werden - und am Ende nicht zustande kommen. "Es ist besser, wenn man es etwas gröber formuliert", so Kaßmann. Auch müsse die Ungenauigkeit von Vorausberechnungen dabei stets betont werden.
Quelle: ntv.de