Politik

20 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen Das Sterben endet nicht

In der Nacht zum 29. Mai 1993 zünden Rechtsextreme das Haus einer türkischstämmigen Familie in Solingen an. Der Dachstuhl brennt fast vollständig aus.

In der Nacht zum 29. Mai 1993 zünden Rechtsextreme das Haus einer türkischstämmigen Familie in Solingen an. Der Dachstuhl brennt fast vollständig aus.

(Foto: AP)

Der Solinger Brandanschlag ist der traurige Höhepunkt einer Serie rechtsextremer Gewaltakte Anfang der 1990er Jahre. Er steht für eine Zeit, in der die Zuwanderung von Ausländern die deutsche Gesellschaft überforderte. Zog die Politik in jenen Tagen die richtigen Konsequenzen?

In der Nacht zum 29. Mai 1993 steht in Solingen das Haus der türkischstämmigen Großfamilie Genç in Flammen. Die Mädchen Saime, Hülya und Gülüstan - vier, neun und zwölf Jahre alt - sterben an Rauchvergiftungen, die 18-jährige Hatice durch einen Hitzeschlag. Ihr verzweifelter Sprung aus dem Fenster des Dachgeschosses kostet der 27-jährigen Gürsün das Leben.

Beim Brandanschlag von Solingen sterben fünf Menschen. Das jüngste Opfer ist erst vier Jahre alt.

Beim Brandanschlag von Solingen sterben fünf Menschen. Das jüngste Opfer ist erst vier Jahre alt.

Nunmehr 20 Jahre ist das her. Und die Bilder des verkohlten Dachstuhls in der Wernerstraße 81 sind noch präsent - genauso wie der Anblick der fünf roten Särge mit dem weißen Halbmond und dem Stern darauf, die Angehörige wenig später durch die Straße trugen.

Der Brandanschlag von Solingen, ein tödlicher Angriff von vier Rechtsradikalen, ist der traurige Höhepunkt einer blutigen Serie extremistischer Gewaltakte Anfang der 1990er Jahre. Er ist ein Symbol für eine Zeit, in der die Behörden mitunter fast 80 Angriffe auf Ausländer in Deutschland am Tag verzeichneten. Natürlich reagierten damals Politik und Gesellschaft. Am 20. Jahrestag des Brandanschlags gilt es darum nicht nur, die Erinnerung an diesen Tag zu wecken. Es gilt genauso, die Frage zu stellen, wie die Reaktionen von Politik und Gesellschaft dieser Zeit heute zu bewerten sind.

Überforderte Deutsche

Schon in den 1980er Jahren schnellte die Zahl der Asylbewerber in der Bundesrepublik in die Höhe. Auslöser des Zustroms waren vor allem die Unruhen auf dem Balkan. 1992 erreichte sie mit mehr als 400.000 Anträgen ihren Höhepunkt. Bei immer mehr Bürgern wuchs angesichts der vielen Neuankömmlinge der Argwohn. Bürgermeister sahen sich überlastet. Kämmerer klagten über leere Kassen. Und so wollte sich kaum eine Partei in jenen Tagen den Vorwurf gefallen lassen, des "Problems" nicht Herr werden zu wollen. Vor allem die Volksparteien sahen sich in der Pflicht.

Der CDU-Politiker Heiner Geißler sprach damals von "reißenden Strömen auf die Mühlen der Rechtsradikalen", würde sich nichts ändern. Später als die Union, nach massiven Mitgliederverlusten, kam auch die SPD zu dem Schluss, dass die vielen Zuzügler die Bürger überforderten. Die großen Parteien waren sich also einig: Die Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung und die damit verbundenen Gewaltakte lassen sich nur durch strengere Asylregeln verhindern.

Drei Tage vor dem Brandanschlag in Solingen, der heute wie ein Sinnbild jener Tage wirkt, schloss der Bundestag mit überwältigender Mehrheit den sogenannten Asylkompromiss. Allein Grüne und PDS stimmten geschlossen dagegen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik änderte das Parlament damit ein Grundrecht – das Recht auf Asyl. Mehr noch, der Bundestag schaffte es faktisch ab. Seit jenem Tag ist es kaum mehr möglich, auf legalem Weg in Deutschland Asyl zu erwerben. Die Konsequenz: Die Zahl der Anträge liegt heute deutlich unter der 100.000er Marke. Und wer Polizeibeamte aus Schwerpunktregionen wie dem brandenburgischen Schwedt befragt, bekommt zu hören, dass die Zahl der rechtsextremen Gewaltakte seither deutlich abgenommen hat. Kann also von einer erfolgreichen Politik die Rede sein?

Kein Lob für die Volksparteien

Erst vor wenigen Tagen sagte der SPD-Innenpolitiker Thomas Oppermann der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über die Entscheidung seiner Partei für den Asylkompromiss: "Sie war notwendig, denn die massive Zuwanderung von Aussiedlern, Übersiedlern und Asylbewerbern schien uns damals zu überfordern." Sein Gegenstück von der Union, Innenminister Hans-Peter Friedrich, warnte im vergangenen Jahr schon bei einem im Vergleich zu den 90er-Jahren kleinen Anstieg der Asylanträge von einer "Belastung der Hilfsbereitschaft" der Deutschen. Die Volksparteien halten Kurs, scheinen von ihrem Kompromiss noch immer überzeugt.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International allerdings schätzen die Lage anders ein. Sie kommen überhaupt nicht auf die Idee, Union oder SPD dafür zu loben, die Zahl rechtsextremer Gewalttaten in Deutschland gesenkt zu haben. Denn dass sich die aufgeheizte Stimmung der 1990er Jahre beruhigte, hat einen Preis.

Die Regelung von 1993 führte dazu, dass Flüchtlinge in den allermeisten Fällen nur noch an den EU-Außengrenzen Asyl beantragen können. Und die schützt die Staatengemeinschaft mit allen Mitteln. Hubschrauber, Schnellboote und moderne Radaranlagen kommen zum Einsatz, damit Flüchtlinge erst gar keinen Fuß auf europäischen Boden setzen. "Die EU übernimmt bisher keine Verantwortung für Flüchtlinge, deswegen sterben so viele Menschen im Mittelmeer", sagte jüngst die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Selim Caliskan. Allein 2011 waren es Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen zufolge mehr als 1500 Menschen.  Das nehmen Bürger und Politik zwar immer wieder mit Bedauern wahr. Doch der Druck der Wähler, eine Novelle der Asylgesetze anzustreben, ist kaum messbar. Offensichtlich überfordert das Sterben im Mittelmeer die deutsche Gesellschaft nicht.

Quelle: ntv.de

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