Dossier

Nicht von Gorbatschow Zitat wurde zum geflügelten Wort

Manche Geschichten sind so schön erzählt, dass es dem Volksmund zufolge gleichgültig ist, ob sie wahr sind oder nicht. Berühmten Zitaten geht es ebenso. Allen voran dem zum Klassiker avancierten Satz: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben". Er ermutigte unzählige DDR-Bürger im Oktober 1989 zum Protest gegen Erich Honeckers Regime und wird seitdem in allen Lebensbereichen zitiert. Dass der Spruch aber so wörtlich keineswegs vom damaligen sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow stammt, tut dem keinen Abbruch.

Das Zitat wurde Gorbatschow in den Mund gelegt, doch "Wer zu spät kommt, den betsraft das Leben entfaltete eine ungeheure politische Kraft.

Das Zitat wurde Gorbatschow in den Mund gelegt, doch "Wer zu spät kommt, den betsraft das Leben entfaltete eine ungeheure politische Kraft.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

In den 20 Jahren seit seiner Geburt hat sich das Zitat fest in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben und findet sich variantenreich in vielen Schlagzeilen der Presse. So warnte mit dem angeblichen Gorbatschow-Zitat vor wenigen Tagen die "Süddeutsche Zeitung" die Opfer der Pleite-Bank Lehmann, schnell noch ihre Ansprüche geltend zu machen. Das "Manager Magazin" wiederum titelte zum Arbeitsrecht: "Wer zu spät kommt, den bestraft der Chef" und das "Hamburger Abendblatt" zum Thema Schadenersatz für Zug-Verspätungen: "Wer zu spät kommt, den belohnt die Bahn".

Richtiger Zeitpunkt zum Handeln betont

Dass das Zitat nicht von Gorbatschow stammt, der mit Perestroika (Umgestaltung) und Glasnost (Offenheit) den Anfang vom Ende der kommunistischen Regime im Ostblock eingeläutet hatte, darauf verwiesen erstmals 1997 die Autoren des Buches "Schlüsselwörter der Wendezeit". Demnach reiste der Reformer Gorbatschow, am 6. und 7. Oktober 1989 zum 40. Geburtstag der DDR nach Ost-Berlin. Dort wurde er am Ankunftstag von einem West-Journalisten mit Blick auf die brisante Stimmung in der Bevölkerung gefragt, ob er die Situation für gefährlich halte. Gorbatschow erwiderte allerdings nicht den zur Spruchweisheit geronnenen Satz, sondern sagte hintergründig: "Gefahren lauern nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren".

Am Tag darauf vor dem Politbüro sprach der Kreml-Chef dann vom Wandel und betonte den richtigen Zeitpunkt zum Handeln: "Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort", sagte er laut der vier Jahre später veröffentlichten Rede. Der Journalistin Ulla Plog zufolge war es schließlich Gorbatschows Sprecher Gennadi Gerassimow, der das berühmte Zitat in die Welt setzte. Auf einer informellen Pressekonferenz an jenem 7. Oktober habe er es Journalisten auf Englisch gesagt, um das Zusammentreffen des Reformers Gorbatschow und des Hardliners Honecker zu charakterisieren.

Ungeheure politische Dynamik

Die Übersetzung des "Those who are late will be punished by life itself" ging dann um die Welt und entfaltete innerhalb weniger Tage vor allem in der DDR eine ungeheure politische Dynamik. Er wurde von den sich formierenden Bürgerrechtlern aufgenommen und bereits am 30. Oktober war auf der Montagsdemonstration in Leipzig auf einem Plakat zu lesen: "Wer zu spät kommt, den straft das Leben - deshalb Neues Forum jetzt!" Gorbatschow war mit Glasnost, Perestroika und dem ihm in den Mund gelegten Zitat zum ideellen Führer der Oppositionellen geworden, schreibt der Wissenschaftler Jochen Schade in einem Aufsatz zur "Massenpsychologie der Leipziger Montagsdemonstrationen".

Selbst die Volkskammer der DDR erkannte dies unmittelbar nach dem Ende des Honecker-Regimes an. Im Protokoll zu einem Wortbeitrag am 26. Mai 1990 heißt es: "Erinnern wir uns aber hier des Gorbatschow-Zitats, das gleichsam am Schnittpunkt der Wende mahnend vor der selbstgefällig jubilierenden SED-Führung stand: 'Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben'".

Quelle: ntv.de, Jürgen Oeder, AFP

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