
Lachen oder nicht lachen, das ist hier die Frage: Nur ein Rezensent denkt bei #allesdichtmachen an Hamlet.
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Die Kunst will nach ihren Regeln betrachtet sein. Wer ihr Moral überstülpt, muss sich einen Ignoranten nennen lassen. Nachdem die Theater seit Monaten geschlossen sind, gerät das wohl in Vergessenheit. Viele Reaktionen auf die Aktion #allesdichtmachen sind nicht anders zu erklären.
Die Komödie und noch mehr die Satire ist ein Format, das bei Kritikern nicht beliebt ist. Ob ein Werk gelungen ist, entscheidet nämlich jeder unmittelbar. Lacht das Publikum oder lacht es nicht, das ist die entscheidende Frage. Dabei wiegt das Lachen eines Rezensenten nicht mehr als das jedes anderen Zuschauers. Und weil sich das Lachen weder verordnen noch verbieten lässt, ist es bei den Mächtigen und Regierenden gefürchtet. In Gesellschaften, die gerade über die Einschränkung ihrer Freiheitsrechte streiten, ist die Subversion das Mittel der Wahl.
Über die Aktion #allesdichtmachen haben viele gelacht. Und - wie es sich für gelungene Satire gehört - haben sich mutmaßlich ebenso viele aufgeregt. Für alle, die mit der Kunstform vertraut sind, dürfte das wenig überraschend gewesen sein. Nicht vorhersehbar und nachwirkend verstörend ist die hysterische und weithin unbarmherzige öffentliche Schelte, die auf diese Kunstaktion folgte. Sie gehört ins Fach des Trauerspiels: Statt ein Stück deutscher Debattenkunst aufzuführen, betritt der moralisierende und selbstgerechte Banause die Bühne.
"So schäbig, dass es wehtut"
Der "Tagesspiegel" kommentierte gleich in der Überschrift, "Alles dicht machen" sei "so schäbig, dass es weh tut", unterstellte den Machern, sie wollten die 80.000 Corona-Toten verhöhnen und seien "Querdenker"-Mustern aufgesessen. Statt gute Lösungen gegen die Krise vorzuschlagen, böten gutsituierte "Tatort"-Darsteller ein Bild von "Wohlstandsverwahrlosung". Aber immerhin dem rechtslastigen Ex-Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen gefalle diese "Unverschämtheit". Wohl wissend um das scharfe Schwert der sozialen Ächtung bereitet der Kommentator die Schauspieler schon mal darauf vor, was ihnen nun bevorsteht: massiver Gegenwind. Den haben sie, so der Tenor, auch verdient. Denn: Die Videos "sind ein Schlag ins Gesicht aller, die gelitten haben, die berechtigte Angst haben, die solidarisch sein wollen".
Für ein Werk, das die Öffentlichkeit derart interessiert und polarisiert, ist die Liste der Verrisse in den Feuilletons erstaunlich lang. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" bescheinigt den Künstlern, sie hätten von ihrem Recht auf misslungene Satire Gebrauch gemacht. Zwar hätten die Mimen ihren Auftritt kunstfertig angelegt, doch zeigten die Beiträge, dass sie in der Pandemie "nur den Blick für die eigene Lage haben". Der Kommentator des NDR erklärt Jan Josef Liefers treuherzig, er müsse doch gar keine Satire treiben. Er könne doch seine Meinung in einem konstruktiven Leitartikel frei artikulieren, so wie es die kritischen NDR-Redakteure jeden Tag tun.
Der Medienjournalist Stefan Niggemeier beklagt "einen Dammbruch" gegen rechts und suggeriert damit, dass in politischen Feuchtgebieten Leute wie Maaßen und Seinesgleichen hausen, die man leider nun vermehrt zu Gesicht bekomme, weil der Deich gebrochen sei. Flankierend erklärt ein Psychologe den "Spiegel"-Lesern, dass die Videos Ausdruck einer Verbitterung seien darüber, dass differenzierte Fragen zu wenig zum Zuge kommen. "Verlieren wir aufgrund des starren Blicks auf nackte Zahlen vielleicht manchmal den Blick dafür, dass es nicht nur darum geht, Menschenleben zu retten - sondern auch das, was uns als Menschen ausmacht? Kunst und Kultur etwa", fragt der Gastautor im ironie- und nebenwirkungsfreien Verständigungsmodus.
"Zäsur in der Kulturgeschichte der Pandemie"
Kunst und Kultur etwa? Offensichtlich fällt es nach mehr als einem Jahr Pandemie und monatelang geschlossenen Theatern und Kabaretts schwer, die Kunst nach ihren eigenen Regeln zu bewerten. Lediglich in der "Welt" würdigt Feuilletonchef Alexander Rosenfelder die Aktion nach ihrem ästhetischen Gehalt. Er kommt zu einer Bewertung, die den Machern der Aktion auf dem Höhepunkt des Shitstorms vielleicht ein wenig Trost gewährt hat: "Es ist eine Zäsur in der Kulturgeschichte der Pandemie: Ein Berufsstand, dem die Politik durch die dauerhafte Schließung von Theatern und Kinos offiziell Überflüssigkeit bescheinigt hat, meldet sich ungefragt zurück - und hält der mit sich selbst beschäftigten Krisengesellschaft den Spiegel vor, fast wie die Schauspieltruppe, die im dritten Akt von Shakespeares 'Hamlet' die Hofgesellschaft schockiert."
Natürlich ist das viel verlangt: Wer auf Twitter schnell mal auf Kollegen eindreschen will, kann nicht auch noch den Shakespeare unterm Arm tragen. Und so setzt sich ausgerechnet der öffentlich-rechtliche Chefsatiriker Jan Böhmermann mit seiner Gegenattacke #allenichtganzdicht blitzschnell an die Spitze der Empörten und Gereizten. Auch der Präsident der Deutschen Filmakademie, Schauspieler Ulrich Matthes, verurteilt die Videoaktion #allesdichtmachen. Er habe sich sehr gewundert über die Unterstellung, es gebe keinen Diskurs darüber, ob die Maßnahmen in der Pandemie berechtigt seien. "Dieser Diskurs wird seit einem Jahr medial geführt", sagt Matthes und nennt die Beiträge "Quatschvideos".
Die Messlatte "Hamlet" ist für die Aktion wohl zu hoch gegriffen. Auch ist es derzeit vernünftig, ein vollbesetztes Opernauditorium zu meiden. Doch mit "Quatsch" und "Unverschämtheit" lässt sich die Sprengkraft der Aktion nicht entschlüsseln. Der unerhörte Tabubruch von #allesdichtmachen besteht nämlich ganz einfach darin, die herrschende und äußerst wehrhafte Corona-Moral aufzuspießen. Im Namen von Freiheit und Lebensfreude wischen die besten unter den Clips den Mehltau von Ausgangssperre, Quarantäne und Notbremse hinweg. Für einen Augenblick nur, für ein Lachen. Das Gelächter über Zwangsmaßnahmen mag Libertins, Bohemiens und Individualisten näher liegen als anderen, aber am Ende will jeder Mensch selber entscheiden, ob, wie lange und für wen er Opfer bringt. Wer diesen Impuls beherrschen und unterdrücken will, zeigt die hässliche Rückseite, das Schlechte am Guten.
Im Fegefeuer des Medienprangers
Die Protagonisten mussten bereits büßen. Im Interview mit ntv berichtet einer der Initiatoren, der "Tatort"-Regisseur Dietrich Brüggemann, wie es sich im Zentrum des Medienprangers anfühlt. "Ich kann Ihnen sagen, dass so ein Shitstorm gar nicht so leicht auszuhalten ist. Das macht die Leute wirklich fertig. Teilweise kriegen sie Morddrohungen. Von einigen Leuten, deren Videos nicht mehr online sind, weiß ich, dass die komplett hinter der Aktion stehen und das wahnsinnig wichtig finden, aber die Kinder werden bedroht und sie möchten das Video deswegen erstmal nicht mehr online haben." Wer die hastigen Löschaktionen einiger Künstler als reine, überfällige oder späte Einsicht feiert, sollte die Einschätzung Brüggemanns nicht gleich vom Tisch wischen.
Durch fast alle Videos - die gelöschten und die noch ungelöschten - zieht sich der eine Grundton: Der Spott über einen pandemiegetriebenen Duktus der Achtsamkeit und der Fürsorge, den die Verfechter harter Corona-Maßnahmen wie eine Monstranz vor sich hertragen. Die Schauspielerin Claudia Rippe buchstabiert lächelnd das sozial erwünschte Corona-Wir durch: "Wir achten aufeinander. Wir sind solidarisch. Wir retten Leben. Wir schaffen das. Gemeinsam." Die respektlosen Reaktionen auf #allesdichtmachen entlarven, was nach der kommunikativen Kernschmelze von solcher Menschenfreundlichkeit übrig bleibt: Nichts. Gar nichts.
Quelle: ntv.de