Bill Kaulitz im ntv.de-Interview "Ich habe es in Kauf genommen, gehänselt zu werden"
31.10.2024, 11:00 Uhr Artikel anhören
In New York ist "& Julia" schon ein voller Erfolg. Stars wie Ariana Grande und Drew Barrymore kommen kaum aus dem Schwärmen heraus, wenn sie von dem Jukebox-Musical sprechen, in dem die größten Hits des schwedischen Songwriters Max Martin gefeiert werden. Zu Songs wie "... Baby One More Time", "I Kissed A Girl" oder "I Want It That Way" setzt das Stück kurz dem Ende von William Shakespeares "Romeo und Julia" an und geht der Frage nach, wie Julias Leben verlaufen wäre, wenn sie nach Romeo nicht den Freitod gewählt hätte.
Kurz vor der Deutschlandpremiere durfte auch Bill Kaulitz einmal einen Blick hinter die Kulissen des Stage Operettenhauses in Hamburg werfen, wo "& Julia" ab sofort zu sehen ist. Denn auch der Tokio-Hotel-Frontmann ist ein riesen Musical-Fan und könnte sich sogar vorstellen, selbst für eins auf der Bühne zu stehen - wären da nicht all seine Nebenjobs, die ihn zurzeit auf Trab halten, wie er im Interview verrät. Nach einem Besuch in der Maske und in der Anprobe darf der Sänger mit dem Cast sogar ein paar Szenen nachspielen. Mit ntv.de spricht der 35-Jährige über "& Julia", seine Leidenschaft für Musicals, Diversität und den Beginn seiner Schauspielkarriere.
ntv.de: Als Musical-Fan hat dir der Tag hinter den Kulissen und auf der Bühne mit dem "& Julia"-Cast bestimmt sehr viel Spaß gemacht. Wie ist diese Zusammenarbeit entstanden?
Bill Kaulitz: Ich wurde angefragt, ob ich nicht Lust hätte, dabei zu sein und ein bisschen in die Musicalwelt einzutauchen. Eine große Liebe für Musicals habe ich schon immer gehabt - ehrlich gesagt, wollte ich das auch immer machen in meinem Leben. Ich glaube, wenn das mit Tokio Hotel nicht geklappt hätte, wäre ich jetzt Musical-Darsteller. Es vereint alles, was mir gefällt: Musik, Schauspiel, Singen, Performen und Theaterklamotten ... Zum Glück kann ich das mit Tokio Hotel ja auch ausleben und mache da mein eigenes Musical draus. (lacht) Aber ich bin mit Musicals auch aufgewachsen, meine Mama liebt sie. "Cats" lief bei uns den ganzen Tag rauf und runter. Ich fühle mich hier heute also wie zu Hause.
Du hast "& Julia" in New York schon live gesehen. Was macht das Stück so besonders, kannst du dich damit identifizieren?
Ich hatte gehört, dass es um Max-Martin-Songs geht - er ist für mich das absolute Musikgenie, ich bin mit seiner Musik aufgewachsen und es war schon immer mein großer Traum, mal mit ihm zu arbeiten. Alle 90s-Kids kennen seine großen Popsongs! Britney Spears war meine allererste CD, die ich damals bekommen habe. Vorhin habe ich hinter den Kulissen ein Spiel gespielt, in dem ich seine Songtexte beenden sollte - volle Punktzahl! (lacht)
Super! Welche Lieder waren das?
Backstreet Boys, Britney und *NSYNC!
Verrückt, für wie viele Hits Max Martin verantwortlich ist, oder?
Das ist wirklich krass, auch die vielen Genres. Er schreibt für Adele, macht Country, Metal und Pop und hat so viele Songs geschrieben, von denen man gar nicht wusste, dass er da mitgeschrieben hat.
Hast du ihn kennengelernt?
Ich lerne ihn heute Abend kennen. Wir gehen gemeinsam essen.
Gibt es da vielleicht noch irgendeine Zusammenarbeit?
Das wäre toll! Er hat nämlich gesagt, "Kaulitz & Kaulitz" ist seine Lieblingsshow. Da freue ich mich sehr. Er ist extra einen Tag vorher gekommen, um mit mir zu essen. Ich freue mich darauf!
Sind Musicals etwas, was du dir in deiner Off-Zeit von Tokio Hotel vorstellen könntest?
Eigentlich total, ich habe nur leider schon so viele Nebenjobs. (lacht) Es ist einfach unser Jahr! Wir drehen "Kaulitz & Kaulitz" und haben den Podcast "Kaulitz Hills - Senf aus Hollywood". Ich fange jetzt an zu schauspielern, mache noch viele Filmprojekte und habe jetzt bis zum 18. Dezember keinen einzigen Tag frei. Aber ich würde super gerne eins machen und habe sogar schon ein super cooles Angebot bekommen für nächstes Jahr in Köln.
Was denn?
Ich weiß nicht, ob ich das verraten darf ... (er guckt rüber zu seinem Management, wo alle energisch den Kopf schütteln) Alle sagen nein! (lacht) Ich habe wirklich darüber nachgedacht, aber es hieß, ich müsste dafür vier Wochen am Stück in Köln sein, und damit war ich leider schon raus. Aber es gibt für alles eine Zeit. Und es wird wieder Jahre geben, in denen es bei uns ruhiger ist.
Theater und Musicals sind insbesondere für Menschen mit diversen Identitäten schöne Zufluchtsorte. Was bedeutet für dich Diversität im Kontext der Musik- und Modeindustrie?
Musical und Mode sind so schöne Fantasiewelten, in denen man seinem Alltag gut entkommen kann. Der ist oft herausfordernd, grau oder macht schlechte Laune. Für mich waren Musicals als Kind immer Zufluchtsorte - da konnte ich als Kind frei sein, da habe ich mich ausgelebt. In meinem Beruf kann ich das zum Glück auch. Aber hier im Musical bin ich in einer Traumwelt. Wenn ich hier im Stage Operettenhaus reinlaufe, verliere ich mich im Zauber des Stücks, des Licht und der Kostüme. Dann gehe ich raus und denke auf einmal: Ach, stimmt ja, wir sind in Hamburg auf der Reeperbahn. (lacht)
Hast du eine Botschaft, die du denjenigen mitgeben möchtest, die sich in ihrer Identität unsicher fühlen?
Mut zahlt sich aus! Nichts ist schwieriger, als man selbst zu sein. Da gehört viel Mut dazu. Aber am Ende lohnt es sich immer, mutig zu sein.
Mit Tokio Hotel wart ihr quasi über Nacht wahnsinnig berühmt und erfolgreich. Teilweise wurdet ihr aber auch belächelt, besonders von Erwachsenen. Wie konntest du das überwinden?
Loitsche (bei Magdeburg, Anm.d.Red.), wo ich aufgewachsen bin, war wie ein Bootcamp für das, was später gekommen ist. Ich kenne das Gefühl, Angst zu haben, auf Toilette zu gehen oder im Schulbus zu fahren. Einmal wurde ich gefragt, was ich dem jüngeren Bill raten würde. Und ich habe gesagt: Es ist andersrum, ich würde eher versuchen, von dem jüngeren Bill etwas beizubehalten, weil ich mich nie zurückgezogen habe. Ich war sehr mutig, bin mit Make-up zur Schule gegangen und ich habe es in Kauf genommen, Angst zu haben, gehänselt zu werden und Sprüche zu kassieren. Diese Freiheit war mir wichtiger. Ich wollte nicht mein Leben von anderen bestimmen lassen. Mein großes Ziel war, so schnell wie möglich da wegzukommen. Mit 15 sind wir dann von da abgehauen. Das, was ich im kleinen Stil bereits kennengelernt hatte - also Neid, Hass oder Homophobie -, hatten wir dann mit der Band im großen Stil. Das war natürlich krass, aber durch das Bootcamp vorher hat es mich nicht überrascht.
Wie empfindest du es jetzt?
Ich lebe in einer wahnsinnigen Bubble: Ich bin abgeschirmt, laufe mit Security herum und habe ganz wenig Kontakt mit der echten Welt. Als Teenager war ich aber auch schon in meiner Blase und musste mich mit den ganzen schlimmen Herausforderungen, die andere queere Menschen in ihrem Alltag haben, nie herumschlagen. Ich kenne es zwar auch, mit Eiern oder Flaschen beworfen zu werden. Aber ich musste keine Angst haben, in der Straßenbahn zu fahren oder abends alleine nach Hause zu laufen.
In Los Angeles, wo ihr mittlerweile sesshaft seid, lebt es sich auch sicherlich freier als in Deutschland, oder?
L.A. war die Rettung! Sowohl privat als auch für die Band: Beruflich hatten wir zu dem Zeitpunkt einen Overload. Wir waren uninspiriert, die Leute hatten genug von uns, wir hatten genug von uns - da hat es allen gut getan, mit 20 Jahren ein bisschen die Luft rauszunehmen und erstmal unsere Leben zu leben. Da habe ich erst alles nachgeholt: Daten, rausgehen, normal am Alltag teilnehmen, mal wieder hochgucken, den Leuten in die Augen schauen ...
Inwieweit siehst du die Verantwortung von Künstlern, Diversität in der Arbeit zu fördern?
Verantwortung klingt immer so streng. Man muss es einfach machen, wie man es fühlt. Wir als Band standen immer für die Freiheit, das Freisein und dafür, sich auszuleben. Wir sind alle so unterschiedlich, dass es am Anfang das Gerücht gab, dass wir gecastet sind. Aber das ist ja auch heute noch so! Ich sage den Jungs nie, was sie anziehen sollen. Wir labern uns nie rein, jeder lebt so, wie er möchte. Und ich glaube, das war auch das, was viele Leute damals schon wütend gemacht hat: dass wir so unterschiedlich, aber trotzdem beste Freunde waren. Man muss einfach immer mit gutem Beispiel vorangehen, indem man sich treu bleibt und die Dinge macht, die einem Spaß machen und authentisch sind.
Was müsste sich in unserer Gesellschaft verändern, damit sich alle Menschen wohler fühlen können?
Alle sollten sich einfach zeigen, selbstbewusst und mutig sein. Man darf sich nie zurückziehen oder sich einschüchtern lassen. Nicht von der Politik, nicht von der Mehrheit. Meine Freundin Candy Crash (deutsche Drag Queen in Hollywood, Anm.d.Red.) hat neulich gesagt, dass queere Menschen in den Medien wieder so "unangesagt" sind und dass es für Drag Queens und so weniger Jobs gibt. Das finde ich sehr schade, gerade dann muss man eben am Ball bleiben.
Du sagtest vorhin, du startest deine Schauspielkarriere. Was ist da geplant?
Ich habe gerade einen Horrorfilm abgedreht. Fand ich cool als erste Rolle. Ich werde beim Sex im Wald umgebracht und aufgespießt. Das fand ich sehr schön. (lacht) Das hat mir sehr viel Spaß gemacht, ich hatte sehr viel Blut im Gesicht. Ansonsten habe ich ein paar Cameo-Auftritte. Außerdem wurde gerade eine Hauptrolle für ein Filmprojekt angefragt, wo ich aber auch 70 Tage drehen müsste. Da weiß ich noch nicht, ob das klappt. Das muss ich meinen Manager da drüben noch mal fragen. Es ist lustig: Jetzt, wo ich auch schauspielern möchte, kommen sofort zehn verschiedene Angebote rein, die ich einfach nicht unterkriege. Dabei sind das alles Dinge, die mir so viel Spaß machen und die ich gerne absage. Ich will am liebsten alles machen.
Wenn du mal zurückblickst, hättest du dir mit zwölf Jahren gedacht, dass dein Leben so aussehen würde?
Mit Musik hatte ich in unserer Band schon immer das größte Selbstbewusstsein. Tom wäre Kfz-Mechaniker geworden, Georg wollte Arzt werden ... und die sagen alle, die hätten das auch gemacht, wenn ich nicht derjenige gewesen wäre, der so gepusht hätte. Für mich gab es nie einen Plan B, obwohl ich mir das natürlich nie so ausgemalt hätte. Aber wenn man mit 15 Jahren eine Karriere anfängt - vor allem mit einem Nummer-1-Song -, macht man danach nur noch ein bisschen schwächere Versionen davon. Alle Gefühle, die man schon mal gefühlt hat, fühlt man dann immer wieder und es ist wie beim ersten Mal Achterbahn fahren: Nichts ist so geil wie das erste Mal. Außer beim Sex - wobei, das erste Mal ist immer nicht so gut, dann wird es hoffentlich besser. (lacht) Aber ansonsten im Leben sind erste Male ja immer am tollsten. Darum war es für uns die größte Herausforderung, sich nach so einer frühen Karriere noch mal neu zu begeistern für das, was man macht.
Gelingt euch das mittlerweile?
Wir hatten noch nie so viel Spaß mit unserer Karriere wie jetzt gerade. Wir haben uns noch nie so wohl gefühlt, weil wir alles selber machen, so viele andere Projekte haben und jeder seinen Weg auch außerhalb der Band gefunden hat. Der neue Karriereaufschwung hat uns wirklich überrascht. Vor drei Jahren wusste ich gar nicht, dass wir einen Podcast haben würden, jetzt kann ich mir ein Leben ohne gar nicht mehr vorstellen. Hätte mir jemand gesagt, wir machen eine Reality-TV-Sendung, hätte ich gesagt: Auf keinen Fall, ich lasse doch keine Kameras in mein Schlafzimmer!
Wie sehen eure weiteren Pläne mit Tokio Hotel denn noch aus?
Wir gehen in drei Wochen auf Tour, wir spielen in L.A., New York, Kanada und Lateinamerika - Brasilien und Mexiko. Wir machen auch ganz viel neue Musik und arbeiten an einem neuen Feature mit einer deutschen Künstlerin. Dazu darf ich aber wirklich noch nichts verraten. Vor allem aber hoffe ich, dass Max Martin das nächste Album produziert! Das ist mein Ziel für heute Abend. (lacht) Also drück mir die Daumen.
Mit Bill Kaulitz sprach Linn Penkert
Das Musical "& Julia" ist ab sofort im Stage Operettenhaus in Hamburg zu sehen. Tickets für diese wie alle weiteren Aufführungen gibt es auf der Seite des Veranstalters Stage Entertaiment.
Quelle: ntv.de