Thrill to kill "Lies - oder stirb!"
24.07.2022, 20:28 Uhr
Hochspannung ist garantiert.
(Foto: imago images/Gerhard Leber)
"Tatort" und "Polizeiruf" locken jeden Sonntag Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer vor die TV-Bildschirme. Abgesehen von Fußball-Weltmeisterschaften oder -Europameisterschaften kommt an den Krimiquoten nichts anderes heran. Dabei sind die Storys längst keine plumpen 0815-Polizei-fängt-Mörder-Spielchen mehr. Stattdessen gehen die Plots in die Tiefe, sind teilweise psychologische Charakterzeichnungen, werden immer mehr zum Thriller - mal hart, mal einfühlsam, mal witzig. Allerdings laufen im Sommer Wiederholungen. Krimi- und Thrillerfans müssen sich anderweitig ihren "Stoff" besorgen. ntv.de gibt dabei Hilfestellung.
"Schreib oder stirb" von Micky Beisenherz und Sebastian Fitzek
Gibt es lustige Psychothriller? Deutschlands Thriller-Papst Sebastian Fitzek sowie Comedy-Autor und TV-Moderator Micky Beisenherz versuchen sich genau daran. Hier der Bestsellerautor, dem kein menschlicher Abgrund zu tief und zu dunkel erscheint. Dort der Mann des Wortwitzes, der beißenden Dialoge. Kann das funktionieren? Ja, absolut! "Schreib oder stirb" heißt das Werk des Duos, bei dem das von Fitzek verfasste Vorwort bereits den Weg weist: Der Autor zeigt Humor, kann über sich selbst lachen, nimmt sich auf die Schippe - und auch die deutsche Verlagsbranche.
Ein Literaturagent steht dabei im Mittelpunkt. Erfolgreich, mit Verbindungen in alle Gesellschaftsschichten: vom stinkreichen Steuerberater bis zum Liebesromane schreibenden Ex-Mafioso. Er soll das Buch eines in der Psychiatrie sitzenden Mannes schreiben und ihm einen Deal über eine Million sichern - sonst stirbt ein kleines Mädchen, das der Mann entführt und irgendwo versteckt haben will. Variante a: Der Literaturagent namens David Dollar macht es, das Mädchen wird gerettet, der Psychopath stinkreich. Das wäre aber nicht Fitzek: Ein Twist folgt auf den nächsten, eine Buchverkäuferin mit undurchsichtiger Vergangenheit wird mithilfe eines Hammers ins künstliche Koma befördert. Ihr Vater, ein Schuhmagnat, will die lebenserhaltenden Systeme kappen. Eine "Witwenschüttlerin" macht mobil. Es geht für Dollar in die Pampa, an den Müggelsee, den Scharmützelsee und auf einen Schrottplatz.
Gibt es am Ende ein Happy End? Überlebt das Mädchen? Welche Rolle spielt der Sohn des Schuhmagnaten? Schreibt Dollar das Buch? Sicher ist, Fitzek und Beisenherz haben es getan. "Schreib oder stirb" ist ein Psycho-Thriller. Mit Gewalt. Mit düsteren Ecken. Mit Abgründen. Aber eben einer, bei dem die Leserin und der Leser öfter lacht, als ihr oder ihm wahrscheinlich lieb ist.
"Kellergrab" von Paul Cleave
Das perfekte Verbrechen? Das Autorenpaar Lisa und Cameron behaupten von sich, dass sie es begehen könnten. Doch die in Interviews leichtfertig ausgesprochene Aussage fällt dem Paar auf die Füße, als ihr siebenjähriger Sohn Zack eines Nachts spurlos verschwindet. Ein Einbrecher? Eine Entführung? Oder steckt das Ehepaar dahinter? Denn Zack war kein umgänglicher Junge: störrisch, laut, fordernd. Cameron hat das erst einen Tag vor dem Verschwinden des Jungen wieder am eigenen Leib zu spüren bekommen, als er mit Zack auf einem Jahrmarkt war und der Siebenjährige von einer auf die nächste Sekunde aus der dortigen Hüpfburg verschwand.
Cameron, der nur kurz mit Lisa simste, verstand die Welt nicht mehr, suchte den Kleinen, sprach andere Kinder an, verlor fast die Nerven: Zwei andere Eltern beschuldigten ihn, ihre Kinder angefasst zu haben. Als Zack dann an der Einlass-Schlange wieder auftaucht und sich keiner Schuld bewusst ist, ahnt Cameron noch nicht, dass er bald zum Ziel einer Hetzjagd wird. Denn nicht nur die Polizei ermittelt im Fall des verschwundenen Kindes, sondern auch ein Boulevardjournalist der übelsten Sorte, den Lisa und Cameron einst bloßgestellt hatten.
Paul Cleave liefert mit "Kellergrab" erneut einen Psychothriller ab, der unter die Haut geht, der Fragen aufwirft und provoziert sowie polarisiert. Haben die Eltern den Jungen für mehr Publicity verschwinden lassen? War ein Kinderschänder am Werk? Oder ist Zack einfach nur ausgerissen? Er hatte es zuvor bereits mehrfach in Wutanfällen angekündigt. Wie schnell man vom Paulus zum Saulus wird und das nie alles so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint - dafür ist "Kellergrab" das perfekte Lehrbeispiel. Spannend von der ersten bis zur letzten Seite.
"Das Loft" von Linus Geschke
Der berühmte zweite Blick lohnt sich für Lesende auch bei Linus Geschkes "Das Loft". In einem Hamburger Loft wohnen Marc, Henning und Sarah seit mehreren Jahren zusammen. Marc und Sarah sind ein Paar, ein Traumpaar - und die Hauptverdächtigen, als Henning eines Nachts verschwunden ist, die Polizei aber literweise Blut in der Küche des Lofts und in der Mülltonne im Keller das passende mit Blut bespritzte Messer zu einem sich mit 100-prozentiger Sicherheit ereigneten Verbrechen gefunden wird. Marc und Henning waren best buddies, aber als Marc Sarah kennengelernt hat, bröckelt die Freundschaft: Sarah und Henning können sich nicht leiden.
Die Kommissarin Bianca Rakow ermittelt, ein Motiv ist schnell gefunden, aber von der Leiche fehlt jede Spur. Nun beginnen Marc und Sarah in verschiedenen Erzählsträngen die gemeinsame Vergangenheit zu durchleuchten, ihre jeweilige Unschuld dem Lesepublikum zu vermitteln. Dabei stellt sich heraus, dass Henning in Hamburg im großen Stil mit Ecstasy gedealt hat, dass Marc davon wusste, dass sie Partner waren und Marc nun aber aussteigen wollte. Es tauchen Verbindungen zu einem weiteren Dealer auf, dem Marc und Henning das Geschäft abgeluchst hatten; und zu einer Rockerbande, die Henning ebenfalls aufs Kreuz gelegt zu haben scheint.
Und schon bröckelt die Fassade: War Marc es? Hat Sarah Henning erstochen? Waren es beide? Oder keiner - denn schließlich gibt es keine Leiche. Und wo keine Leiche, da kein Mord. Hat Henning einen Mord vorgetäuscht, um zu verschwinden und sich andernorts ein neues Leben aufzubauen? Und welche Rolle spielt bei dem Ganzen eine Nicaragua-Reise der drei? Was ist dort vorgefallen? Kommissarin Rakow hat einiges zu tun, um Licht ins Dunkel zu bringen - und am Ende den wahren Schuldigen der gerechten Strafe zuzuführen, wie diese auch immer aussehen mag. "Das Loft" klingt nach Hochglanzthriller - und der neue Bestseller von Linus Geschke ("Tannenstein") liefert genau das, mit Überraschungs-Twist am Ende.
"Kaltherz" von Henri Faber
Mit der Geburt des eigenen Kindes beginnt die Angst der Eltern, es wieder zu verlieren. Plötzlich werden Gefahren gesehen, wo eigentlich keine sind. Der Wald wirkt dunkler, die Straße voller Verkehrsrowdys und später ist der Heimweg vom Kindergarten oder von der Schule gespickt mit düsteren Gestalten, deren einziges Ziel es natürlich ist, das Kind zu entführen, zu misshandeln und zu töten. Zugegeben, an derartigen Thrillern scheiden sich die Geister. Geht es um körperliche Gewalt gegen Kinder, ist bei vielen Leserinnen und Lesern der Ofen aus. Das Buch wandert in den Müll oder auf den Dachboden.
Bei "Kaltherz" von Henri Faber ist das anders. Zwar steht auch hier eine Kindesentführung im Mittelpunkt. Aber die Hauptrolle nimmt nicht die kleine entführte Marie ein, deren Mutter sie nur fünf Minuten aus den Augen gelassen hatte. Nein, das Hauptaugenmerk des Autoren liegt auf der Figur der Kommissarin Kim Lansky. Sie ist in einem Münchener Brennpunktbezirk aufgewachsen, hat aber noch die Kurve gekriegt. Zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus. Ihr Bruder ist dagegen auf dem Weg, die Kleinkriminalität in die andere Richtung hinter sich zu lassen.
Lansky wird mit seelisch gebrochenen Menschen konfrontiert, muss sich mit fragwürdigen Ermittlungsmethoden auseinandersetzen und tief in ihre Vergangenheit zurückblicken, um den Fall des verschwundenen Mädchens zu lösen. Dabei scheint sie einer Verschwörung auf die Schliche zu kommen. Oder ist Lansky dabei, durchzudrehen?
"Kaltherz" hat alles, was einen guten Thriller auszeichnet: Hauptprotagonisten mit Ecken und Kanten, die Sympathien wecken, aber auch kosten können. Es gibt erzählerische Twists, die den Leser nicht nur bei der Stange halten, sondern ihn noch heißer auf den Plot machen. Und auch bei diesem deutschen Bestseller ist das Ende ein anderes, als man es erwartet hat.
"Der geheimnisvolle Mr. Hyde" von Craig Russell
Mit dem Unerwarteten spielt auch Craig Russell, der hierzulande vor allem durch seine "Jan Fabel"-Reihe bekannt sein dürfte. Russell hat aber weit mehr auf dem Kasten, wie sein neuestes Werk "Der geheimnisvolle Mr. Hyde" zeigt. Das Buch entführt in das Edinburgh längst vergangener Zeiten, ins 19. Jahrhundert, an deren Häuserecken Krankheiten, Mord und Totschlag zu jeder Tages- und vor allem Nachtzeit lauern. Edward Hyde, Superintendent bei der Polizei, kennt die Gefahren, ist angesehen und gefürchtet gleichermaßen: Er leidet an epileptischen Anfällen, versucht diese aber geheim zu halten, um seinen Job weiter ausführen zu können. Das Problem dabei: Hatte er einen Anfall, kann er sich an nichts mehr erinnern.
Nach einem solchen Anfall erwacht er in der Nähe eines Mordschauplatzes. Ab da plagt ihn die Frage: Bin ich der Mörder? Hilfe erhofft er sich von seinem Psychiater, der neben Hyde nur noch einen weiteren Patienten betreut. Als weitere Morde geschehen, die zudem Verbindungen zueinander aufweisen, wächst der Aufklärungsdruck auf Hyde. Einen Serienkiller auf freiem Fuß kann sich weder die Politik noch die Polizei erlauben. Erst recht nicht, wenn ein Kult im Hintergrund die Fäden zu ziehen scheint. Aber wer ist Hyde wirklich? Welche Rolle spielt er in dem Ganzen? Ist sein Name Programm?
Das erfahren die Leserinnen und Leser natürlich erst ganz am Ende des spannungs- und energiegeladenen Russell-Buches. Es liefert zudem einen historischen Einblick in das Leben der damaligen Zeit in Edinburgh. Es zeigt aber auch, dass es nationale Bestrebungen schon seit Jahrhunderten gibt. Ein freies, von Großbritannien losgelöstes Schottland ist kein Produkt der heutigen Zeit. Russell verwebt in seinem Buch historische Aspekte der Entstehung des schottischen Nationalbewusstseins gekonnt mit einem extravaganten Thriller - witzig und düster zugleich.
"1979" von Val McDermid
Nicht in Edinburgh, sondern in Glasgow siedelt Schottlands bekannteste Krimiautorin Val McDermid ihr neues Buch "1979" an. Es ist der Start einer vierteiligen Reihe rund um die Journalistin Allie Burns. In "1979" beginnt sie als Reporterin des Boulevardblatts "Daily Clarion" und muss sich mit Kleinkram herumschlagen, obwohl sie - wie wohl alle Journalisten - lieber den ganz großen Scoop landen will. Aber für eine junge Frau in der damals absolut von alten Männern dominierten Zeitungsgeschäftslandschaft ist "Me too" und Gleichbehandlung noch in weiter Ferne. Im Jahr 1979 stehen Schneestürme, Stromausfälle, jede Menge Streiks und auch ungeklärte Todesfälle auf der Tagesordnung. Aber auch politische Ränkespiele und Korruption sind Themen, an dem sich Burns gerne versuchen würde. Als ein Kollege sie um Mithilfe bei einer umfangreichen Story bittet, mischt Burns deshalb gern mit.
Sie verdient sich die ersten Sporen und statt Boulevard heißt es bei ihr danach: große Politik, Schottlands Streben nach Unabhängigkeit, Zentralregierung. Heimlich geht sie dabei vor, weiht ihren Kollegen ein, kommt einer Gruppe Männer auf die Spur, die offenbar mit Gewalt und Verbindungen zur IRA Schottland in die Freiheit führen wollen. Aber dann findet sie ihren Kollegen tot in dessen Wohnung. Hat es mit ihrer Story zu tun? Oder hat ihn die Vergangenheit eingeholt? Zuvor war er schließlich mächtigen Männern in einem Steuerbetrugsfall auf die Füße getreten. Und Burns hat ihm dabei geholfen. Schwebt sie nun auch in Lebensgefahr? Burns stellt Nachforschungen an.
Die Nachforschungen enden zwar in "1979", die Geschichte von Burns wird aber fortgesetzt: "1989". Der Auftakt macht auf alle Fälle Lust auf mehr. Das Buch ist dabei einerseits eine Hommage an den Journalismus der damaligen Zeit, als Druckerschwärze und Schreibmaschinen mit Durchsatzpapier an der Tagesordnung waren. Andererseits liefert es aber auch einen gesellschaftlichen Einblick in eine Zeit, die - aus heutiger Sicht betrachtet - kantiger, direkter, ungehobelter, cooler gewesen ist: Es ging zum Mittagessen ins Pub, Pint inklusive. Statt vor dem Fernseher einzuschlafen, wurde gern und oft zum Buch gegriffen. Und statt Salat oder Veggie kam Haggis aus der Dose auf den Tisch. Ganz zu schweigen davon, dass ohne Handy und Internet ermittelt wurde. Herrlich! Wer braucht da schon einen "Tatort" oder "Polizeiruf"?
Quelle: ntv.de