Roh, lustig, herzzerreißend Mutterschaft ist gar kein "Kinderspiel"


Noch nie hat Soldier einen Menschen so geliebt wie dieses Kind, und noch nie war der Preis für eine Liebe so hoch.
(Foto: IMAGO/Addictive Stock)
Soldier ist gerade Mutter geworden. Sohn Sailor macht, dass sie vor Liebe überfließt. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist Angst, Einsamkeit und Wut.
Wenige Tage nach der Geburt sitzt Soldier zu Hause. Die junge Mutter ist überwältigt und fassungslos von der neuen Realität. "Frauen riskieren ihr Leben, um ein Kind zu gebären. Sie ertragen entsetzliche Schmerzen, ihr Innerstes zerreißt, dann raffen sie sich wieder auf, ganz gleich, wie schlimm es um sie steht, ganz gleich, wie viel Blut sie verloren haben, und kümmern sich um ihren Säugling."
Während die junge Mutter genau das tut, geht ihr Mann, der Vater des Wunschbabys, wieder zur Arbeit. Soldier ist vor allem müde, sie kann nicht allein aufs Klo, und das klingt viel lustiger, als es ist. Das Baby isst nicht gut und schreit viel. "Von außen wirkt eine das Neugeborene wiegende Mutter friedlich. Aber eine frisch gebackene Mutter ist nicht friedlich, sondern befindet sich in einem hektischen Zustand höchster Alarmbereitschaft. Wir erklären sie für gelassen, um sie sich selbst zu überlassen."
Mutterschaft, das Versorgen eines in allem auf sie angewiesenen kleinen Menschenkindes, katapultiert die Frau, die sich gewünscht hatte, eine Mutter zu werden, in eine völlig neue Welt. Hier ist sie ebenso unerfahren wie das neugeborene Kind, voller Ängste und bald auch voller Wut. Denn das Schreien des Kindes zieht jede Kraft aus ihrem Körper. Hilflos steht sie vor einer unbesiegbar scheinenden Wand von Erwartungen.
Babykacke und Smileys
Gute Mütter haben zufriedene, wohlgenährte Babys. Sie kochen mit biologisch wertvollen Zutaten, gehen in Spielkreise oder wenigstens auf den Spielplatz. Sie stehen nicht mit Babykacke beschmiert in ihrem Badezimmer, unfähig, das Haus zu verlassen, weil alles daran unmöglich erscheint. Sie haben Feuchttücher dabei und Apfelschnitze, sprechen mit sanfter Stimme und schicken den Vätern Bilder, auf denen die Babys süße Babydinge tun, damit diese mit einem Smiley reagieren können.
Soldier will das alles auch, aber sie kann einfach nicht. "Ich bin müde. Ich bin einsam. Ich stecke knietief in einem Sumpf aus Groll über dieses neue Leben, bin eine Person geworden, die ich nicht sein möchte, habe andauernd Schuldgefühle, dass ich nicht andauernd Dankbarkeit für meinen Kindersegen spüre. Ich bin andauernd dankbar: Ich vergöttere mein Kind. Aber ich bin müde. Ich bin einsam. Ich bin verloren."
Soldier macht ihrem Mann Vorwürfe, weil er in sein Leben zurückkehren, sogar noch mehr arbeiten kann. Weil da eine Frau zu Hause ist, die sich um alles andere kümmert und von der erwartet wird, dass sie ein Baby und einen Haushalt versorgt und parallel arbeitet. Soldiers Verzweiflung ist so groß, dass sie zwischenzeitlich glaubt, ihr Kind sei ohne sie besser dran, dass sie ihren Mann hasst und ihr Leben sowieso. Irgendwann wird der Überlebenskampf weniger, abgelöst von der Erkenntnis, dass der Sohn heranwächst.
Eine Frau mit einem Kinderwagen
Claire Kilroy hat einen schonungslosen Roman über Mutterschaft geschrieben. Es ist ein langer Monolog über die Herausforderungen, einem Baby zu essen zu geben oder Schuhe anzuziehen, während sich eine absurde Situation nach der nächsten entfaltet und die Mutter versucht, einen klaren Gedanken zu fassen. "Ich hatte die ganze Zeit geglaubt, gleichwertig zu sein, während ich es die ganze Zeit nicht war, denn ich schritt die ganze Zeit über einer tiefen Kluft entgegen, genannt Mutterschaft, und jetzt, da ich unten angekommen war und benommen zur Welt hinaufschaute, wurde mir klar, dass meine Annahme, Weltreich und Patriarchat seien am Ende, mindestens naiv war. Beide waren sie nicht nur gesund und munter: Sie hatten gewonnen."
Auf 285 Seiten entfaltet sich ein mäandernder Gedankenstrom, so viele Gedanken, wie eine Mutter eben fassen kann, bevor irgendetwas anderes ihre Aufmerksamkeit beansprucht. Auch in der Übersetzung von Luca Mael Milsch haben nicht alle Sätze Punkte oder Fragezeichen. Es sind kluge Gedanken, bitterböse Beschreibungen von Verlorenheit und Überforderung, Gedanken von schmerzender Liebe und grenzenloser Angst. Kilroy lässt ihre Protagonistin dabei nie nörgelig erscheinen, vielmehr steht diese junge Mutter fassungslos in einer Welt, deren Einschränkungen sie nicht für möglich gehalten hätte.
Im Original heißt "Kinderspiel" "Soldier and Sailor", ein Titel, bei dem sich Bilder einstellen, wie Mütter in soldatenhafter Disziplin durch ihre Tage marschieren, während ihre Kinder scheinbar leicht am Wind segeln. Kilroy selbst sagt, ihr Buch erzähle das "geheime Leben der Frau, die sie mit einem Kinderwagen herumziehen sehen", und man ahnt, wie verloren viele von ihnen sind.
Quelle: ntv.de